Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
unwahrscheinlich. Ich hatte keinerlei Zweifel, daß die von mir wahrgenommene Erscheinung dieselbe war, die in den Ausstellungsräumen des Britischen Museums umhergeisterte. Er war vielleicht verrückt, aber nicht dumm. Genau wie die meisten anderen Bewohner Londons hätte er mit Leichtigkeit feststellen können, wo wir logierten und wann wir dort eintreffen würden. Daß wir seine Neugier geweckt hatten, war kaum erstaunlich; die Zeitungen hatten angedeutet, daß wir von dem Museum zu Rate gezogen werden würden. Doch sosehr ich auch hoffte, zum interessanten Objekt eines meuchelnden Irren geworden zu sein, war diese Prämisse aus dem einfachen Grund nicht haltbar, daß kein Mord begangen worden war. Emerson hatte recht gehabt, und ich … ich ebenfalls, da ich keine Sekunde lang geglaubt hatte, daß es sich bei der unheilvollen Mumie um etwas anderes als eine Zeitungsente handelte. Der Verrückte hegte uns gegenüber keine mörderischen Absichten; er hatte nicht einmal einen Revolver in unsere Richtung abgefeuert.
Als ich an diesem Punkt meiner Überlegungen mit meiner Enttäuschung und der daraus resultierenden Frustration kämpfte, sprang die Tür auf, und Rose spähte vorsichtig ins Zimmer.
»Pst«, zischte ich. »Der Professor schläft noch.«
»Tatsächlich, Madam?« Sie hatte ihre Stimme nicht gedämpft; im Gegenteil, sie klang eine Spur zu schrill. »Ich wollte nur fragen, ob der junge Herr Ramses sein Zimmer verlassen darf.«
»Das kann ich nicht beurteilen, Rose. Der Professor hat ihn auf sein Zimmer verbannt, und deshalb obliegt es seiner Entscheidung, ob der Junge sein Zimmer verlassen darf.«
»Ja, Madam.« Roses Stimme steigerte sich zu einem gemäßigten Kreischen. »Darf ich fragen –«
»Nein, dürfen Sie nicht. Ich möchte unter gar keinen Umständen, daß Sie den Professor aufwecken.«
»Sehr wohl, Madam. Danke, Madam.« Sie knallte die Tür zu. Emerson schnaubte verärgert. »Immer ergreift sie für Ramses Partei«, brummte er und zog die Bettdecke über seinen Kopf.
Offensichtlich war er wach und unverkennbar schlecht gelaunt. Es hatte keinen Sinn, im Bett zu bleiben, da er sich keinesfalls in der richtigen Gemütsverfassung für gewisse Aktivitäten befand, die er unter den gegebenen, günstigen Bedingungen häufiger begrüßte. Deshalb stand ich auf, kleidete mich an – wobei ich es für unklug hielt, Roses Hilfe in Anspruch zu nehmen – und ging nach unten.
Ich wollte Emerson so schnell wie möglich zum Aufbruch aus London bewegen – um ihn unter Umständen noch schneller wieder dorthin zu befördern. Obgleich Ägypten meine geistige Heimat ist und ein hübsches, gepflegtes Grab zu meinen Lieblingsunterkünften zählt, hänge ich sehr an unserem Haus in Kent. Es handelt sich um ein bescheidenes Anwesen (acht große Schlafzimmer, vier großzügige Empfangsräume und die üblichen Arbeitszimmer) aus rotem Backstein im Tudorstil. Der das Haus umgebende Park und das Weideland belaufen sich auf etwa zehn Hektar. Wir hatten das Anwesen nach der Geburt von Ramses gekauft und es in Anlehnung an unsere romantischen Flitterwochen Amarna Manor getauft. Solange Emerson einen Lehrstuhl an der Universität innehatte, hatten wir dort ganzjährig gelebt. Es war immer wieder ein Vergnügen, für eine Weile dorthin zurückzukehren, obwohl ich nicht damit rechnete, daß wir in diesem Sommer viel Zeit dort verbringen würden. Nein; das neblige, abstoßende, schmutzige London würde uns festhalten – zumindest so lange, bis Emerson sein Manuskript fertiggestellt hatte. Je eher er damit fertig war (wie er wiederholt anmerkte), um so eher konnten wir zu den satten grünen Wiesen und der friedvollen Stille unseres (englischen) Heims zurückkehren.
Als Emerson auftauchte, hatte ich bereits einen Großteil der Vorbereitungen für unsere am nächsten Tag stattfindende Abreise getroffen. Er wurde von Ramses begleitet; aufgrund ihres Grinsens, das selbst den unergründlichen Gesichtsausdruck meines Sohnes aufhellte, wurde offensichtlich, daß sie sich vertragen hatten.
Dennoch erfuhr Ramses die Neuigkeit von der bevorstehenden Ankunft seiner Cousins nicht von seinem Vater. Er bezog diese Information von James, woraufhin sich sein kleines Gesicht schmerzvoll verzog. »Ist das nicht herrlich, mein Junge?« feixte James. »Es wird allerhöchste Zeit, daß du mit Kindern deines Alters spielst. Percy, mein Junge, ist ein netter kleiner Bursche; er wird schon dafür sorgen, daß diese blassen Wangen Farbe
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