Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
kriegen und daß deine Muskeln gestählt werden …«
Ramses ertrug das Zerren und Kneifen an seinem Oberarm mit mehr Gleichmut als von mir angenommen. »Wie alt sind meine Cousins, Onkel James, und wie viele sind es? Ich muß zugeben, daß ich kaum einen Gedanken an sie verschwendet habe, und deshalb bin ich nicht informiert –«
»Sei still, Ramses«, unterbrach ich ihn. »Wie soll dein Onkel deine Frage beantworten, wenn du pausenlos redest?«
»Ah … hmhm«, sagte James. »Laß mich nachdenken. Es sind zwei – Percy und die kleine Violet. Ich nenne sie meine >kleine< Violet, weil sie Papas Liebling ist. Ihr Alter? Laß mich nachdenken … Percy ist neun, glaube ich. Vielleicht auch zehn. Ja. Und die liebe kleine Violet ist – äh –«
Emersons geschürzte Lippen bekundeten seine Meinung von einem Mann, der nicht einmal das Alter seines kleinen Lieblings, geschweige denn seines Erben wußte. Er sagte jedoch nichts; die ganze Zeit über sprach er James nie direkt an.
Ramses erhob sich. »Bitte, entschuldigt mich. Ich habe mein Frühstück beendet und muß Bastet füttern. Heute morgen verhält sie sich überaus merkwürdig. Mama, vielleicht solltest du sie dir einmal anschauen, denn ich möchte nicht –«
»Ich komme gleich, Ramses.«
Nachdem er verschwunden war, schüttelte James den Kopf.
»In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen Jungen so reden hören. Aber mein Percy wird den kleinen Kerl schon bald auf Trab bringen. Er ist ein ganz normaler Junge, mein Percy. Körperliche Ertüchtigung im Freien, das ist die Devise; und euer Sohn wird schon bald vor Gesundheit strotzen. Wollen doch der unseligen Neigung der Familie zur Schwindsucht vorgreifen, was, Amelia?«
Erneut schlang er sein Frühstück in sich hinein, während ich ihn mit stummem Widerwillen beobachtete. In meiner Familie hatte es keinen einzigen Fall von Schwindsucht gegeben. James hatte das nur erwähnt, um damit anzudeuten, daß er uns einen Gefallen tat – und nicht das genaue Gegenteil.
Nachdem er alles vertilgt hatte, trat James zur Erleichterung sämtlicher Betroffener den Rückzug an. Er hatte mir zu verstehen gegeben, daß er die Kinder gegen Ende der Woche vorbeibringen würde. Als er sich in die Droschke hievte, die ihn zum Bahnhof bringen sollte, grinste er so merkwürdig, daß mir ernste Zweifel an der Intelligenz meiner Entscheidung kamen. Allerdings waren die Würfel gefallen; und Amelia Peabody Emerson gehört nicht zu den Frauen, die ihren Entschlüssen untreu werden oder eine einmal begonnene Aufgabe hinschmeißen.
Nach James’ Aufbruch besserte sich Emersons Laune, um dann jedoch aufgrund der Morgenzeitung, die eine von Miss Minton verfaßte Story über ihre vorabendliche Begegnung mit uns enthielt, ins krasse Gegenteil umzuschlagen. Die junge Dame verfügte zwar über einen äußerst flotten und unterhaltsamen Stil, doch die Stichhaltigkeit ihres Berichts ließ einiges zu wünschen übrig. Die Erscheinung hatte nicht geredet, keine Luftsprünge vollführt und auch nicht mit obszönen Drohgebärden reagiert; Emerson hatte weder seine Ärmel hochgekrempelt noch das Wesen zum Zweikampf animiert; und ich hatte mit Sicherheit nicht vor Entsetzen geschwankt, als er mich zum Haus zerrte. (Meine Bewegungen waren vielleicht etwas ungelenk, aber nur deshalb, weil Emerson mich hinter sich herschleifte.)
Nachdem er den Salon mit der zerrissenen und zertrampelten Zeitung verunstaltet hatte, fühlte Emerson sich wieder besser. Daraufhin wandten wir uns der Diskussion hinsichtlich der Vorbereitungen für die Sommermonate zu. Walter und Evelyn wiederholten ihr freundliches Angebot, im Chalfont House zu logieren, was ich überschwenglich dankend annahm. Emersons Kinnladen klappte hinunter. Ich verpaßte seinem Schienbein einen ermahnenden Tritt, dem er jedoch entging, da er diese kleinen Warnungen bereits zur Genüge kennt; glücklicherweise war meine Reaktion vollkommen überflüssig. Emersons Gutherzigkeit, eine Charaktereigenschaft, die viel zu selten Anerkennung findet, siegte über seine schlechte Laune, und er bedankte sich ebenfalls erfreut.
In Wahrheit ist das Chalfont House nicht unbedingt die angenehmste Unterkunft für einfache Leute wie uns, die jegliche Protzerei zutiefst verabscheuen und lieber anheimelnde Gemütlichkeit demonstrieren. »Die verfluchte Katakombe« (Emersons ironische Kommentierung) ähnelt eher einem Museum als einem Wohnhaus; sie verfügt über mehr als 50 Zimmer und nur wenige Fenster. Das
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