Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
blutunterlaufene Schwellung legte, doch seiner kurzen Äußerung zufolge hatte mein mütterlicher Vortrag wohl kaum Wirkung gezeigt. »Ein kleiner Gentleman zu sein«, bemerkte er mehr zu sich selbst als zu mir, »scheint mir kaum der Mühe wert.«
Nach dem Zwischenfall mit dem Fahrrad legten sich die Streitereien zwischen den Kindern – vielleicht auch deshalb, weil ich Ramses drei Tage lang auf sein Zimmer verbannte. So war ich in der Lage, meinen häuslichen Pflichten nachzugehen und die Abreise nach London zu planen. Emerson hatte sich in der Bibliothek verschanzt; lediglich zu den Mahlzeiten tauchte er auf und beteiligte sich ungnädig brummend an unseren Gesprächen. Anfänglich vernahm ich sein verärgertes Gebrüll, wenn er wieder einmal eine von Ramses’ Änderungen in seinem Manuskript entdeckt hatte; doch diese wurden mit der Zeit weniger, und schließlich informierte er mich in epischer Breite, daß er an einem Punkt angelangt sei, wo das Studium weiterführender Materialien im Britischen Museum keinen Aufschub dulde. Ich informierte ihn im Gegenzug, daß ich zum Aufbruch bereit sei und nur auf sein Startzeichen warte.
Da ich jeden nur möglichen Auslöser für eine Auseinandersetzung vermeiden wollte, machte ich keinerlei Andeutung hinsichtlich des merkwürdigen Falles um die unheilbringende Mumie; aber seien Sie versichert, werter Leser, daß ich tagtäglich eifrig die Zeitungen auf neue Hinweise durchstöberte. Das Ergebnis war überaus deprimierend. Mr. O’Connell und seine Konkurrentin gaben ihr Bestes, doch der einzige, der ihnen Stoff für ihre Geschichten lieferte, war der allseits bekannte Verrückte im Priestergewand, der den Sarkophag der Mumie regelmäßig besuchte. Weder den Besuchern noch dem Wachpersonal des Museums wurde auch nur ein Haar gekrümmt.
Ich hatte die ganze Sache schon fast verdrängt, als Wilkins eines Morgens – ich glaube, es war am Dienstag – auftauchte und mir eine Besucherin ankündigte. Die junge Dame war ihm unbekannt, und sie hatte sich ihm auch nicht namentlich vorgestellt. »Trotzdem, Madam, glaube ich, daß Sie sie empfangen werden«, sagte Wilkins mit einem überaus seltsamen Blick.
»Tatsächlich, Wilkins? Und warum glauben Sie das?«
Wilkins hüstelte entschuldigend. »Die junge Dame war überaus beharrlich, Madam.«
Er betonte das Wort »Dame« sehr nachdrücklich; und Wilkins hat als Snob alter Schule ein gutes Gespür für solche Unterscheidungen.
»Dann führen Sie sie zu mir«, erwiderte ich und legte meinen Füllfederhalter beiseite. »Oder, nein – es ist besser, wenn ich zu ihr gehe, dann kann ich das Gespräch schneller beenden. Wo ist sie, Wilkins?«
Er hatte sie in den Salon geführt – ein weiteres Anzeichen für gesellschaftlichen Status. Ich schritt in Richtung dieses Raums.
Die »junge Dame« beschäftigte sich eifrig mit den auf dem Kaminsims aufgereihten Familienfotos. Obgleich sie mir den Rücken zugewandt hatte, erkannte ich sie sogleich an ihrem nachdenklichen Kopfschütteln und an der Tatsache, daß sie in ein Notizbuch hineinkritzelte.
»Junge Dame, sagten Sie, Wilkins?« entfuhr es mir unüberhörbar.
Sie kreischte auf und wirbelte zu mir herum. Es handelte sich in der Tat um Miss Minton, die in ihrem adretten dunkelblauen Schneiderkostüm mit gestreifter Bluse überaus elegant wirkte. Ein Strohhut thronte auf ihrem Kopf.
Taktvoll zog sich Wilkins zurück, und Miss Minton bewies, daß sie alles andere als eine Dame war. Statt einer Begrüßungs- oder Entschuldigungsfloskel stürmte sie auf mich zu und fuchtelte mit ihrem Notizbuch vor meiner Nase herum. »Sie müssen mir zuhören, Mrs. Emerson, das müssen Sie in der Tat!«
Ich baute mich vor ihr auf. »ICH muß, Miss Minton? Sie scheinen nicht zu wissen, mit wem Sie es zu tun haben!«
»Oh, natürlich weiß ich das – aber selbstverständlich! Warum wäre ich sonst zu Ihnen gekommen? Verzeihen Sie, Mrs. Emerson, ich weiß, daß ich mich ungebührlich verhalte, aber mir bleibt keine Zeit für Höflichkeiten, nein, in der Tat nicht. Ich habe am Bahnhof den einzigen Einspänner gemietet, trotzdem darf ich seinen teuflischen Erfindungsreichtum nicht unterschätzen, er wird mit Sicherheit schon bald ein anderes Transportmittel finden, und dann folgt –« Ihre Ausführungen endeten mit einem weiteren kurzen Aufschrei oder Kreischen, als explosionsartiges Klopfen und lautes Rufen durch das Haus schallten, was selbst durch die geschlossene Salontür drang.
Miss Minton
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