Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
verstehen, was er sagte, doch sein gleichgültiger Ton und sein Gesichtsausdruck erweckten in mir den starken Eindruck, daß er nicht vorschlug, uns zu königlichen Ratgebern zu ernennen. Meine Hand tastete nach dem Ausschnitt meines Gewandes.
»Ganz ruhig, Peabody«, zischte Emerson aus dem Mundwinkel. »Es besteht keine Gefahr. Vertrau mir.«
Wenn ich schon einem nubischen Robin Hood vertraut hatte, war ich meinem Gatten mindestens dasselbe schuldig. Ich ließ meine Hand sinken.
Als Pesaker seine Ansprache beendet hatte, erhob sich Nastasen, als ob er eine Erklärung abgeben wolle. Aber noch ehe er dazu kam, war die hohe, süße und nun ziemlich schrille Stimme der verschleierten Frau zu vernehmen. Sie sprach einige Zeit lang, wobei sie mit den Armen ruderte, als seien es anmutige, weiße Schwingen. Niemand widersprach ihr, nachdem sie zu Ende geredet hatte. Offensichtlich verärgert, biß Pesaker sich auf die Lippen und verbeugte sich. Dann verließen die Priester den Raum.
»Nun!« rief ich aus und wandte mich an Emerson. »Anscheinend sind wir immer noch Ehrengäste. Ich erwartete schon, Pesaker würde unseren Tod fordern.«
»Ganz im Gegenteil. Er hat uns eingeladen, hier im heiligen Tempel zu wohnen.«
»Ja«, warf Ramses eifrig ein. »Und sie … Mama, hast du gehört …«
»Natürlich, Ramses, ich habe ausgezeichnete Ohren. Aber ich muß gestehen, daß ich nicht alles verstanden habe.«
Unsere Begleiter plauderten angeregt, während sie uns zum Ausgang geleiteten. Emerson, der in seinen verhaßten Sandalen neben mir herschlurfte, erwiderte. »In der Sprache religiöser Rituale haben sich oft alte Formen erhalten. Man nehme nur das Koptische, das schon seit Hunderten von Jahren nicht mehr gesprochen wird und in der ägyptischen christlichen Kirche – verdammt!«
Damit meinte er (zumindest diesmal) nicht die Kirche, sondern seine Sandale, die ihm vom Fuß geglitten war. »Aber Mama«, fing Ramses wieder an, wobei er vor Aufregung fast zu hüpfen anfing. »Sie …«
»Schon gut«, sagte ich. Die Sänftenträger warteten. Knurrend bestieg Emerson seine Sänfte. »Sie-der-man-gehorchen-muß – wie dieser geheimnisvollen Frau. Ganz in Weiß verschleiert, damit ihre unglaubliche Schönheit nicht alle, die sie erblickten, um den Verstand brachte …«
Emerson steckte den Kopf durch die Vorhänge seiner Sänfte. Er machte ein schrecklich finsteres Gesicht. »Du sprichst von dem Hirngespinst irgendeines vermaledeiten Schriftstellers, Peabody. Steig in deine Sänfte.«
»Aber Papa!« Ramses’ Stimme erhob sich fast zu einem Kreischen. »Sie …«
»Tu, was dein Papa gesagt hat, Ramses«, befahl ich und nahm in der Sänfte Platz.
Der Rückweg schien länger zu dauern als der Weg zum Tempel, was möglicherweise daran lag, daß ich darauf brannte, die bemerkenswerten Ereignisse dieses Abends mit Emerson zu besprechen. Möglicherweise würden uns sogar einige Momente trauter Zweisamkeit vergönnt sein, denn Mentarit (oder Amenit) hatte bestimmt bei ihrer Herrin zu tun, ehe sie sich wieder uns widmen konnte.
Diese Hoffnung sollte jedoch enttäuscht werden. Nachdem die Sänftenträger uns vor unseren Gemächern abgeliefert hatten, verschwanden sie, was leider nicht für unsere Begleiter galt. Emerson, der seine Sandalen ausgezogen hatte und sie nun in der Hand trug, wandte sich der wartenden Gruppe zu und wünschte ihnen nachdrücklich gute Nacht. Doch sie antworteten nur mit Lächeln und Nicken und blieben stehen.
»Verdammt«, sagte Emerson. »Warum verschwinden sie nicht?« Er wies heftig in Richtung Tür.
Doch diese Geste wurde mißverstanden. Einer der Männer nahm Emerson die Sandalen aus der Hand, während zwei andere auf ihn zustürmten und begannen, die Schmuckstücke zu entfernen.
»Ich glaube, sie machen dich bettfertig«, rief ich, als Emerson zurückwich wie ein Löwe, der von schnappenden Schakalen in die Enge gedrängt wird. »Das ist ein Zeichen der Ehrerbietung, Emerson.«
»Zum Teufel mit der Ehrerbietung«, schimpfte Emerson. Gefolgt von seinen aufmerksamen Dienern, floh er in sein Zimmer.
Geduldig ließ ich die gleichen Aufmerksamkeiten der Damen über mich ergehen. Während ihre Hände mir geschickt das Festgewand auszogen, mein Haar lösten und mich in ein unglaublich weiches Leinenhemd hüllten, sagte ich mir, daß es das beste war, sich fremden Sitten anzupassen, so unangenehm es einem auch sein mochte. Als sie mich zu Bett brachten, fielen mir gewisse mittelalterliche
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