Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Fortbewegungsmittel erlebt.
Wie ich erwartet hatte, wurden wir den aufsteigenden Pfad hinaufgetragen, der von den Häusern der Adligen zum Tempel führte. Es war fast dunkel; wie Diamanten funkelten die Sterne am nachtschwarzen Himmel. In den prächtigen Häusern über uns am Abhang waren Lichter zu sehen. Das Dorf hingegen wirkte, als hätte man ihm einen dichten, schwarzen Schleier übergeworfen, Dunstschwaden schwebten darüber hinweg wie Tüllschals auf einem Untergrund aus Samt.
Ich fühlte meinen Puls und stellte fest, daß er ein wenig schnell ging. Keine Sorge, sagte ich mir. Ein rascher Herzschlag würde das Blut kräftiger durch die Venen pumpen. Wir waren zwar mit größter Ehrerbietung und Hochachtung behandelt worden, doch das mußte noch lange nicht heißen, daß wir die Nacht überleben würden. Wieder wurde ich an die alten Azteken erinnert. Ich änderte meine Sitzposition, da mir die Spitze meines Messers in die Haut bohrte. Ich hatte die Gelegenheit ergriffen, es an meinem Körper zu verstecken, als ich meine Unterwäsche anzog.
Während wir unseren Weg fortsetzten, sträubte ich mich gegen die Versuche meiner Begleiterin, mich ins schicklich abgeschiedene Sänfteninnere zu ziehen, denn ich hatte gesehen, daß Emersons Kopf aus der Sänfte vor uns ragte. Der Mond war über den Klippen aufgegangen; er war noch nicht voll, aber in der kalten, trockenen Luft genügte sein Licht, um die Landschaft in einen silbrigen Schein zu tauchen, ein Anblick, dem kein Forscher widerstehen kann. Mondlicht über dem alten Theben! Nicht die gewaltigen Ruinen, die überlebt haben, sondern die Stadt der hundert Pforten in ihrer stolzen Blütezeit, mit ihren Palästen und Bauwerken, noch unberührt vom Verfall. Ein von Säulen gestütztes Tor glitt vorbei; eine Reihe hathorköpfiger Statuen bildete den Wandelgang eines großen Anwesens. Nun, zur Rechten, kam eine breite Treppe in Sicht; kauernde Sphinxe säumten die Balustrade; darüber erhoben sich Mauern, in die monumentale Figuren eingehauen waren. Die Straße vor uns wurde von einem helleren, weniger romantischen Licht erhellt. Ich reckte den Hals, um besser sehen zu können, doch die Sänften vor uns versperrten mir den Blick, bis wir unser Ziel fast erreicht hatten: Zwillingssäulen, die sich hoch in den Himmel erhoben, ihre bemalte Fassade wurde von Fackeln erleuchtet. Ohne den Schritt zu verlangsamen, liefen die Träger dazwischen hindurch in einen Hof, in dem Säule an Säule stand wie in der Hypostylonhalle von Karnak.
Inzwischen war meine Begleiterin einem Nervenzusammenbruch nah, und da wir gefährlich dicht an den Säulen vorbeikamen, zog ich den Kopf ein. Als ich wieder einen Blick hinauswagte, war das Mondlicht verschwunden. Wir befanden uns tief im Inneren des Berges, und während wir Raum um Raum, Gang um Gang durchquerten, bewunderte ich voller Staunen diese großartige Leistung. Welche Unmengen von Sklaven, wie viele Jahrhunderte waren nötig gewesen, um ein derart gewaltiges Werk zu vollbringen?
Endlich kam die Prozession zum Stillstand, und die Träger ließen die Sänften sinken. Mir gelang es auszusteigen, obwohl meine langen Gewänder mir dabei in die Quere kamen.
Verglichen mit den anderen Räumen, die ich gesehen hatte, war dieser hier ziemlich klein. Gewebte Teppiche bedeckten die Wände, an einer Seite befand sich eine steinerne, mit Kissen bedeckte Bank. Die Träger nahmen die Sänften auf und liefen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Dann stürzten sich die Frauen auf mich, fingen an, meine Röcke glattzustreichen und bohrten mir die Haarnadeln fester ins Haar wie Kammerzofen, die ihre gnädige Frau für einen wichtigen Empfang zurechtmachen.
Ich schob sie weg und ging zu Emerson hinüber, der eine Hand auf Ramses’ Schulter gelegt hatte. Er hielt mir die andere hin. »Wie eiskalt ist dein Händchen«, bemerkte er poetisch.
»Mich friert.«
»Hmmm, ja. Ich frage mich, ob …« Er hielt inne, als ein metallenes Dröhnen den Raum erschütterte. Das Geplauder und Gelächter verstummte. Unsere Begleiter stellten sich in Reihen auf, einige vor, einige hinter uns. Die Wandbehänge an einer Seite des Raums hoben sich wie von Geisterhand. Wieder das metallene Dröhnen, und dann setzte sich die Prozession in Bewegung.
»Jetzt gibt es kein Entkommen mehr, ganz gleich, was uns erwartet«, meinte Emerson fröhlich. »Ich hoffe nur, daß ich nicht über diese verdammten Sandalen stolpere.«
Ich drückte seine Hand.
Wir betraten einen
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