Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
aufgeben durfte.«
»Sehr bewundernswert«, lobte ich ihn. »Und dann sind Sie wohl überfallen worden?«
Reggie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nur undeutlich, Mrs. Amelia. Ich bin dann krank geworden … Sie schlugen im Morgengrauen zu. Ich weiß lediglich, daß ich von Geschrei und Stöhnen geweckt wurde. Als ich aus meinem Zelt stürzte, sah ich, wie meine Männer flohen. Ich kann es ihnen nicht verübeln, denn sie waren nur mit Messern bewaffnet, und die Schurken, die sie verfolgten, trugen große Eisenspeere, Pfeile und Bogen.«
»Aber Sie hatten doch eine Flinte«, meinte Emerson und kaute an seiner Pfeife.
»Ja, und es gelang mir, einige der Teufel ins Jenseits zu befördern, ehe sie mich überwältigten«, antwortete Reggie. Ein finsterer, zufriedener Ausdruck ließ sein liebenswürdiges Gesicht härter erscheinen. »Als ich feststellte, daß sie mich nicht töten, sondern gefangennehmen wollten, setzte ich mich noch heftiger zur Wehr. Einen raschen Tod hätte ich der Sklaverei vorgezogen. Aber es war vergeblich. Ein Schlag auf den Kopf streckte mich nieder, und ich muß einige Tage lang bewußtlos gewesen sein. An den Weg hierher erinnere ich mich nicht.«
»Und Sie wissen auch nicht, was mit Ihren Männern geschehen ist?« fragte Emerson.
Reggie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich sind einige von ihnen entkommen – und dann elend verdurstet. Doch nun sind Sie wieder an der Reihe, Mrs. Amelia. Sind Sie schon lange hier gefangen? Haben Sie Fluchtpläne? Wie ich Sie kenne, Herr Professor, kann ich mir nicht vorstellen, daß sie sich achselzuckend in die Gefangenschaft fügen.«
»Sie drücken das recht theatralisch aus, Mr. Forthright«, sagte Emerson. »Das Tal ist der Traum eines jeden Archäologen, und ich würde es nur ungern verlassen, ehe ich diese faszinierenden Überreste der meroitischen Kultur nicht eingehend untersucht habe. Wir sind nicht wie Gefangene, sondern wie Ehrengäste behandelt worden. Und dann ist da noch eine Kleinigkeit, der Grund, weshalb wir überhaupt hier sind: herauszufinden, was aus Ihrem Onkel und seiner Frau geworden ist.«
»Sie sind tot«, sagte Reggie leise. »Gott schenke ihrer Seele Frieden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Er hat es mir gesagt.« Zwar versuchte Reggie, seine Stimme zu dämpfen, aber Trauer und Wut waren ihm dennoch deutlich anzumerken. »Mit einem schurkischen Lachen hat er mir ihren langsamen und qualvollen Tod unter der Folter beschrieben …«
»Nastasen?« rief ich aus.
»Wer?« Fragend sah Reggie mich an. »Nein, es war Ihr Freund Kemit, den man hier Prinz Tarekenidal nennt. In seinem Kerker saß ich all diese schrecklichen Wochen lang gefangen.«
Reggies Bericht wurde nicht durch seine überbordenden Gefühle oder von einem literarischen Kunstgriff meinerseits, sondern durch das Erscheinen der Diener unterbrochen, die sich anschickten, das Abendessen vorzubereiten. Emerson wies sie an, ein Zimmer für den Neuankömmling herzurichten, und ging mit, um zu übersetzen, denn Reggie hatte, wie er zugab, kaum etwas von der Sprache gelernt. Kurz darauf kam ein Wachmann mit einem Rucksack herein, den ich als Reggies erkannte. Ich schickte einen Diener damit zu ihm.
Ramses hatte seinen Vater und Reggie begleitet, doch die Katze hatte es vorgezogen zu bleiben und sich auf einem Haufen Kissen zusammengerollt. Als ich mich neben sie setzte, öffnete sie ein goldenes Auge und gab ein genüßliches Grunzen von sich. Ich streichelte ihren Kopf und ihr weiches Fell und beruhigte mich, so daß ich endlich meine wild durcheinanderwirbelnden Gedanken ordnen konnte.
Ich hatte mich immer für eine gute Menschenkennerin gehalten, aber offenbar mußte ich mich in einem der beiden Männer geirrt haben. Entweder log Reggie, oder Tarek war ein finsterer Schurke – und ebenfalls ein Lügner. Waren das wirklich die einzigen Alternativen? Gab es noch eine weitere Möglichkeit?
Mir fielen noch einige ein. Reggie war krank und vielleicht nicht ganz bei Verstand gewesen. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet oder die beiden Prinzen miteinander verwechselt. Wie vielen unwissenden Europäern fiel es ihm schwer, einen »Eingeborenen« vom anderen zu unterschieden, und die beiden Brüder sahen sich auf den ersten Blick sehr ähnlich – vor allem, wenn es dunkel war. Und man konnte mit Sicherheit davon ausgehen, daß es sich bei Reggies Zelle um ein finsteres, feuchtes Loch gehandelt hatte.
Andererseits aber hatte Tarek Reggie möglicherweise
Weitere Kostenlose Bücher