Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Gott, und die Priester waren Staatsbeamte.«
»Und was hat das mit der hiesigen Situation zu tun?«
»Alles. Im Laufe der Jahrhunderte hat Amon wie in Ägypten die Macht und die Attribute anderer Götter übernommen – Re, Atum, Min – der mit dem enormen …«
»Ja, Emerson, diese Entwicklung ist mir bekannt. Man nennt besagtes Phänomen Synkretismus.«
»Richtig. Nun, Osiris ist der einzige Gott, den Amon nie vereinnahmen konnte. Die beiden sind zu verschieden – Amon-Re, der große und mächtige König der Götter, erhaben und ehrfurchtgebietend. Osiris, der leidende Erlöser, der wie ein gewöhnlicher Mensch gestorben ist und wieder auferstand. Isis, seine angebetete Gattin, ist beim Volk sehr beliebt. Die anderen Götter – Bes, Bastet, Apedemak, der alte kuschitische Löwengott –, auch sie haben hier ihre Anhänger. Aber nur zwei Kulte sind wirklich von Bedeutung – der des Amon-Re, der von dem sauertöpfischen alten Schurken Pesaker vertreten wird, und der von Osiris und Isis; und deren Hohepriester ist unser Freund Murtek.«
»Ich verstehe. Das erklärt die eigenartige Figurengruppe, die wir letzte Nacht gesehen haben: Aminreh, Isis und Osiris, anstatt einer der üblichen göttlichen Familien.«
»Und es erklärt auch die Meinungsverschiedenheiten zwischen Pesaker und der Priesterin der Isis, was unsere Zukunft betraf.« Emerson räkelte sich, so daß die Muskeln unter seinem Leinenhemd spielten. »Es ist doch schmeichelhaft, wenn sich zwei Götter um einen streiten.«
»Du meinst ihre Vertreter auf Erden, Pesaker und Murtek – denn die Hohepriesterin sprach bestimmt im Namen von letzterem. Immer wieder der gute, alte Machtkampf, Emerson. Können wir davon ausgehen, daß Amon den einen Prinzen und Osiris den anderen unterstützt?«
»Ich wünschte, es wäre so einfach. Ganz sicher haben es beide Prinzen auf Amons Fürsprache abgesehen, denn sein Priester verkündet die Entscheidung des Gottes. Und beide Priester wünschen sich einen Prinzen, der nach ihrer Pfeife tanzt. Vermutlich wird hinter den Kulissen kräftig geschachert, bestochen, erpreßt und Druck ausgeübt. Allerdings habe ich heute etwas noch viel Interessanteres erfahren, Peabody. Murtek ist ein alter Fuchs – anderenfalls hätte er in diesem Intrigennest wahrscheinlich nicht überlebt –, denn als er mich zur Tür begleitete, ließ er eine Bemerkung fallen, die einschlug wie ein Blitz.«
»Und?« fragte ich.
Hinter uns raschelte der Vorhang aus grünen Kletterpflanzen. Es war nur eine Brise, die zärtlich meine Wangen liebkoste, aber Emerson nahm mich bei der Hand und zog mich auf die Füße. »Gehen wir ein Stückchen, Peabody.«
»Es ist geschmacklos, die Spannung bis ins Unerträgliche zu steigern, Emerson!«
»Ich möchte nicht belauscht werden.« Emerson legte den Arm um mich und drückte mich an sich. »Peabody – es ist noch ein Europäer hier!«
Emerson mußte mich daran hindern weiterzufragen, indem er mich hinter einen blühenden Busch zerrte und seine Lippen fest auf meine preßte. Diese Unterbrechung war in jeder Hinsicht erfrischend, und als ich endlich wieder sprechen konnte, verstand ich den Grund seines Handelns.
»Du hast das Thema nicht weiterverfolgt – hast dich nicht danach erkundigt, wer dieser Mann ist oder wo er lebt?« flüsterte ich.
Emerson schüttelte den Kopf »Murtek redete sofort weiter, und wir waren von den verdammten Höflingen umringt. Er machte es recht geschickt, eine beiläufige Anspielung auf etwas, was ihm der >andere weiße Mann< kürzlich gesagt habe; selbst wenn jemand ihn gehört haben sollte, hielt er es gewiß für einen Versprecher.«
»Könnte dieser Mann nicht doch Willoughby Forth sein? Vielleicht haben sie gelogen, als sie uns von seinem Tod erzählten …«
Emerson unterbrach mich, indem er mich so fest drückte, daß mir die Luft wegblieb. »Ruhig, Peabody. Ich flehe dich an. Meiner Meinung nach ist das höchst unwahrscheinlich. Du hast vergessen, daß es noch einen Kandidaten gibt.«
»Aber natürlich!« hauchte ich.
Ich hatte den armen Reggie Forthright nicht vergessen, und ich vertraue darauf, daß auch der werte Leser sich seiner noch erinnert. Wir hatten zwar des öfteren über sein trauriges Schicksal gesprochen, aber gezwungenermaßen darauf vertraut, daß die Vorsehung, der liebe Gott oder das Militär (nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge) uns wieder mit ihm vereinen würden, denn wir waren machtlos. Nun überkam mich die Erkenntnis wie eine
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