Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Stufen hinabgingen. »Hat Mr. Forth uns eine Botschaft hinterlassen?«
Emerson stolperte und wäre fast gestürzt. »Aber Peabody! Du hast die lebhafteste Phantasie, die ich kenne! Wie hätte er das zuwege bringen sollen? Die Texte sind so festgelegt wie das Vaterunser; jede Abweichung wäre bemerkt und hinterfragt worden.«
»Was hast du dann so lange dort getrieben? Ich dachte, wir wollten nur herausfinden, ob Mr. Forth in der Nekropolis beigesetzt ist. Offenbar ist das der Fall, und die Größe und Lage des Grabes weisen darauf hin, daß er hier ein sehr angesehener Mann war. Allerdings muß das nicht zwingend heißen, daß er kein unrühmliches Ende genommen hat. Falls er in Ungnade gefallen ist …«
»Diese Frage hast du schon vor einiger Zeit gestellt«, unterbrach mich Emerson. »Möchtest du die Antwort wissen, oder ziehst du es vor, bis in alle Ewigkeit Vermutungen anzustellen?«
Als wir uns auf den Rückweg machten, nahm unsere Eskorte wieder ihre Plätze ein. Ich hatte den Eindruck, daß sie ein wenig bedrückt dreinblickten.
»Wonach hättest du sonst suchen sollen, wenn es sich bei den Texten nur um festgelegte Formeln handelt?« fragte ich, ein wenig verärgert über seinen tadelnden Ton.
»In dieser Gesellschaft«, antwortete Emerson, »werden die Ehefrauen eines Mannes und manchmal auch seine Kinder in demselben Grab beigesetzt. Das ist dir, wie ich glaube, ebenfalls aufgefallen.«
»Ja, ihre Titel und Abbildungen befinden sich auf dem … Emerson! Meinst du etwa …«
»Sie liegt nicht dort, Peabody. Nur Forths Name ist in das Grabmal eingemeißelt.«
Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte heiß auf uns herunter. Aus einem Khakibaum auf dem Abhang über uns flog ein Vogel mit leuchtend smaragdgrünem Gefieder auf. Unsere Schritte hatten eine sandfarbene Eidechse aufgeschreckt, die eilends die Kante der Plattform hinabhuschte. Die Sandalen der Wachen verursachten ein rhythmisches Schlurfen, das wie gedämpfte Trommelschläge klang.
»Du bist so ungewöhnlich schweigsam, Peabody«, meinte Emerson nach einer Weile. »Hoffentlich ziehst du alle Möglichkeiten in Betracht, ehe du zu einer deiner dogmatischen Feststellungen gelangst.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, Emerson«, erwiderte ich. »Ich wäge die Fakten stets leidenschaftslos gegeneinander ab, ehe ich eine Schlußfolgerung ziehe. Im Augenblick wissen wir nicht genug über die Begräbnissitten, um mit Sicherheit sagen zu können, ob Mrs. Forth im gleichen Grab wie ihr Gatte beigesetzt wurde. Wenn unser Informant die Wahrheit spricht, ist sie lange vor ihm gestorben. Vielleicht hat sie auf einem christlichen Begräbnis bestanden, anstatt wie ihr Mann dem heidnischen Einfluß zu erliegen – was ich übrigens sehr bedaure.«
Emerson warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Ganz recht«, meinte er.
Trotz meines schattenspendenden Sonnenschirms war ich schweißgebadet, als wir unser vorübergehendes Zuhause erreichten. Ich sehnte mich nach kaltem Wasser, einem kühlen Getränk und der Gelegenheit, meine Schlußfolgerungen zu erörtern. Allerdings kam es zu einer kurzen Verzögerung. Anstatt sich wie sonst zurückzuziehen, bauten sich unsere Wachen in einer Reihe auf. Der Anführer, ein hübscher Bursche von nicht mehr als zwanzig Jahren, bellte einen Befehl. Mit wie einstudiert wirkenden Bewegungen ließen die Männer ihre Speere zusammenkrachen und schleuderten sie dann zu Boden. Die Waffen fielen klappernd auf den Stein. Dann sanken die Soldaten demütig auf die Knie, erhoben sich und marschierten davon. Die Speere ließen sie liegen.
»Was zum Teufel soll das?« rief ich aus, wobei ich mich in meiner Überraschung vergaß.
Emerson strich sich übers Kinn. »Ich frage mich, ob das die meroitische Version von >die Todgeweihten grüßen dich< darstellt. Hallo, stehenbleiben! Kommt sofort zurück! Abadamu, verdammt!«
Seine Stimme brachte die eisernen Spitzen der Speere zum Klirren. Die Soldaten blieben stehen. Allerdings wandten sie nicht den Kopf und gaben auch keine Antwort. Emerson ging schnurstracks auf den Anführer zu, packte ihn bei der Schulter und drehte ihn herum. »Warum gehorchst du nicht?«
Der junge Mann schluckte. Sein Gesicht war leichenblaß, und als er antwortete, bewegte er kaum die Lippen: »Oh, Vater der Flüche, wir sind tot. Die Toten hören nicht.«
Zum erstenmal erlebte ich, wie er Emerson direkt ansprach, und mir fiel auf, daß er den Kosenamen, unter dem Emerson in Ägypten bekannt ist,
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