Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
der erstaunte Geistliche uns gewiesen hatte.
»Wenn man jemanden überrumpelt und das dazugehörige Selbstbewußtsein an den Tag legt, tut derjenige meistens, was man von ihm will. Aber ich rechne damit, daß der Bursche, sobald er sich wieder gefaßt hat, sofort losläuft, um Rat und Hilfe zu holen. Also müssen wir uns beeilen.«
Zwar war der Pfad breit, hatte aber zur Linken keine Brüstung. Statt dessen ging es steil etwa vierzig Meter bergab, wo schartige Felsen emporragten. Zur Rechten lagen die Gräber, einige auf gleicher Ebene mit dem Pfad, andere erreichte man über Stufen. Ich mußte mich des Gefühls erwehren, daß es sich nur um Kulissen handelte, denn obwohl die Gräber im Grundriß denen ähnelten, die wir in Ägypten entdeckt hatten, hatte ich noch nie eines im Originalzustand gesehen. Vor jedem Grab war ein kleiner Vorhof in den Fels gehauen worden; dahinter befand sich eine Säulenhalle, darüber eine winzige Pyramide. Die weiß verputzten Wände und bemalten Reliefs leuchteten in der Sonne. Die Türen zu den Grabkammern waren mit Steinblöcken verschlossen; links und rechts standen Statuen, die den Verstorbenen darstellten. Dazu befand sich auf jeder der schattigen Veranden eine große Stele, die mit einem Portrait des Toten, seinem Namen, seinen Titeln und den üblichen Totengeleitsprüchen versehen war.
Wir eilten weiter. Vor jedem Grab blieben wir stehen, um die Hieroglyphen auf den Stelen zu lesen. »Offenbar sind die meisten der hier Bestatteten Hohepriester und Ratgeber mit ihren Familien«, sagte Emerson und hielt inne, um ein hübsches Gemälde des Jüngsten Gerichts zu betrachten: Osiris auf seinem Thron beobachtete, wie das Herz des Verstorbenen mit der Feder der Gerechtigkeit aufgewogen wurde. Anscheinend störte das Fehlen dieses Organs den Betreffenden nicht weiter; vergnügt und in seine besten Gewänder gehüllt, hob er die Hände, um dem Gott zu huldigen. Neben ihm stand seine elegant gekleidete Gattin. »Verdammt, Peabody«, schimpfte Emerson, wobei er den verschlossenen Eingang des Grabes finster betrachtete. »Was gäbe ich darum, einen Blick hineinwerfen zu können. Warum zum Teufel haben diese Leute nicht den Mumm, Gräber auszurauben und sie für Besucher offenzulassen?«
»Achte auf deine Ausdrucksweise, Emerson«, sagte ich. »Ich teile deine Gefühle, aber ich glaube nicht, daß die Grabräuberei hierzulande ein sehr beliebter Beruf ist. Wo sollte ein Dieb denn sein gestohlenes Gut genießen? Ach verdammt, wo ist denn dieses vermaledeite Grab? Hier liegt schon wieder ein verfluchter Kuschite mit Frau und vier Kindern.«
»Achte auf deine Ausdrucksweise, Peabody«, sagte Emerson. »Ich glaube – aha! Schau dir das an!«
Es war der letzte Grabeingang an diesem Teil des Pfades und in seiner prunkvollen Ausstattung den anderen mindestens ebenbürtig.
»Ja«, murmelte Emerson, während er mit dem Finger die Hieroglyphen nachfuhr. »Ich hätte den Namen anders transkribiert, aber der arme Forth war noch nie eine Leuchte auf dem Gebiet der Hieroglyphen. Es gibt keinen Zweifel.«
Der wachhabende Priester hatte Hilfe geholt und war mit Verstärkung zurückgekehrt – zweien seiner Berufskollegen und einer beeindruckenden Gestalt, die ein Leopardenfell über dem weißen Gewand trug und einen vergoldeten Stab in der Hand hatte. Ich baute mich in der Mitte des Pfades auf, verzog mein Gesicht zu einem Lächeln und öffnete meinen Sonnenschirm.
Es war ein ziemlich großer Sonnenschirm, weshalb die Abordnung nicht an mir vorbeigekommen wäre, ohne mich rüde beiseite zu stoßen. Also blieben die drei Männer stehen. Ich erklärte, wir seien gekommen, um unserem Freund die letzte Ehre zu erweisen. Als man mir mitteilte, daß sich niemand ohne ein vorheriges Reinigungsritual den Gräbern nähern dürfe, setzte ich eine unschuldig-erstaunte Miene auf. Ich entschuldigte mich für unseren unbeabsichtigten Fehltritt und erkundigte mich nach den Einzelheiten des Rituals. Der vorgesetzte Priester geriet ins Stottern und schwenkte seinen Stab, tat sonst aber nichts. Er stotterte immer noch, als Emerson sich zu mir gesellte.
»Danke, Liebling«, sagte er. »Nun können wir uns in Würde zurückziehen.«
Das taten wir auch. Der Priester folgte uns einen Teil des Weges. Sein Gesicht zeigte denselben Ausdruck, den ich bei unserem ehemaligen Butler beobachten konnte, wenn er gezwungen war, einen unserer unkonventionelleren Gäste zur Tür zu geleiten.
»Nun?« fragte ich, während wir die
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