Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
ohnehin bestens über sämtliche Vorfälle informiert waren. Außerdem erwiesen sich ihre Ratschläge häufig als sehr nützlich, da sie oft über mehr gesunden Menschenverstand verfügten als ihre sogenannten Herrschaften. Also erwartete ich, daß mein Gatte auf die soeben stattgefundenen außergewöhnlichen Ereignisse zu sprechen kommen würde. Gargery, unser Butler, rechnete offenbar ebenfalls damit. Obwohl er das Servieren der Mahlzeit fachmännisch wie immer überwachte, strahlte er übers ganze Gesicht, und seine Augen funkelten. Ihm machte es stets einen Heidenspaß, wenn wir ihn in unsere kleinen Abenteuer miteinbezogen. Und das eigenartige Verhalten unserer Besucher hatte ihn in dem Verdacht bestärkt daß ein solches kurz bevorstand.
Können Sie sich also meine Überraschung vorstellen, als Emerson, nachdem er seinen Suppenteller geleert und somit den ersten Hunger gestillt hatte, sich mit der Serviette die Lippen abtupfte und bemerkte: »Schreckliches Wetter für diese Jahreszeit.«
»Allerdings nicht ungewöhnlich«, antwortete Walter unschuldig.
»Hoffentlich hört es auf zu regnen. Sonst werdet ihr auf dem Heimweg noch naß.«
»Ganz recht«, stimmte Walter zu.
Ich räusperte mich, aber Emerson sagte rasch: »Und was hast du heute abend für uns ausgesucht, Peabody? Ach, Lammbraten. Und Pfefferminzgelee. Pfefferminzgelee mag ich ganz besonders gern! Eine ausgezeichnete Idee.«
»Mrs. Bates hat das Lamm ausgesucht«, antwortete ich, als Gargery mit einem sichtbaren Schmollen die Teller vorlegte. »Du weißt, daß ich die Speisenfolge ihr überlasse, Emerson. Ich habe nicht die Zeit, mich um so etwas zu kümmern. Besonders jetzt, wo wir so viele zusätzliche Ausrüstungsgegenstände bestellen …«
»Ganz recht«, sagte Emerson.
»Pfefferminzgelee, Sir?« fragte Gargery in einem Tonfall, der diese gallertartige Substanz eigentlich zum Eisklumpen hätte erstarren lassen müssen. Ohne eine Antwort abzuwarten, gab er etwa einen halben Teelöffel davon auf Emersons Teller.
Wie sein Bruder kümmerte sich auch Walter meist nicht um Konventionen; weniger allerdings, weil er Emersons radikale Sozialtheorien teilte, sondern eher, weil er alles vergaß, wenn ihn die berufliche Begeisterung überkam. »Ich muß sagen, Radcliffe«, fing er an, »daß ich dieses Stück Papyrus ziemlich faszinierend fand. Hätte ein altägyptischer Schreiber Englisch schreiben können, wäre das Ergebnis dieser Botschaft überaus ähnlich gewesen. Ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit, sie genauer in Augenschein zu nehmen.«
»Das kannst du nach dem Essen tun«, sagte ich. »Durch einen merkwürdigen Zufall hat Lord Blacktower sie bei seinem hastigen Aufbruch vergessen. Es war doch ein Zufall, oder, Emerson?«
»Du weißt genauso gut wie ich, daß es Absicht war«, fauchte Emerson. » Pas devant les domestiques ,wie du mir immer sagst, Peabody.«
»Pah«, entgegnete ich freundlich. »Inzwischen hat Ramses bestimmt Rose schon alles erzählt. Ich kenne dich gut, mein lieber Emerson, und ich lese in deinem Gesicht wie in einem offenen Buch. Dieses angeblich bedeutungslose Gekritzel hinten auf der Notizbuchseite hat für dich sehr wohl eine Bedeutung. Das weiß ich genau. Und Seine Lordschaft wußte das auch. Ziehst du uns ins Vertrauen, oder zwingst du uns, zu unorthodoxen Maßnahmen zu greifen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen?«
Emerson funkelte uns zornig an – mich, Walter, Evelyn und Gargery, der mit hocherhobenem Haupt das Pfefferminzgelee bewachte. In jeder Falte seines Gesichts war gekränkte Würde zu lesen. Dann erhellten sich Emersons Züge, und er brach in lautes Gelächter aus. »Du bist unverbesserlich, meine liebe Peabody. Ich möchte lieber gar nicht wissen, an welche unorthodoxen Maßnahmen du im besonderen gedacht hast … Und eigentlich gibt es keinen Grund, warum ich euch nicht das wenige erzählen soll, was ich über diese Angelegenheit weiß. Kann ich jetzt noch etwas Pfefferminzgelee haben, Gargery?«
Nachdem sich eine weitere Portion dieser Köstlichkeit auf seinem Teller befand, fuhr Emerson fort. »Als ich Blacktower sagte, dieses Stück Papier gebe uns keinerlei Hinweis auf Forths Schicksal, habe ich nicht gelogen. Trotzdem war es ein unheimliches Gefühl, es nach so vielen Jahren wieder vor mir zu sehen. Mir war, als halle die hohle Stimme eines Toten aus einem Grab empor …«
»Wer steigert sich jetzt in seine blühende Phantasie hinein?« spöttelte ich. »Red schon weiter, Emerson,
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