Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
zu ihrem Brautkleid. Sie war ein traumhaftes Geschöpf und sah nicht älter als Achtzehn aus, mit großen, träumerischen blauen Augen, Haar wie gesponnenes Gold und einer Haut so weiß wie Elfenbein.
Und sie war kalt. Eine Schneekönigin, die nicht mehr menschliche Wärme ausstrahlte als eine Statue. Die beiden waren ein eigenartiger Gegensatz. Forth mit seinem derben, strahlenden Gesicht und dem schwarzen Schopf, seine Frau ganz in Weiß und von einer durchscheinenden Blässe – die Schöne und das Biest, wie man sie sich immer vorstellt. Ich malte mir aus, wie die Hitze ihre lilienweiße Haut versengen, der Sand sie aufscheuern und die Sonne ihr schimmerndes Haar ausdörren würde. Und, bei Gott, Peabody, ich spürte nur das Bedauern, das man empfindet, wenn ein Kunstwerk geschändet wird – kein menschliches Mitgefühl. Doch solche Empfindungen und Wahrnehmungen waren ihr offenbar sowieso fremd. Nein, mein Mitgefühl galt Willie Forth. Die bloße Vorstellung, solch eine Eisstatue in die Arme zu nehmen, mit ihr … äh … hmmm. Du verstehst schon, was ich meine, Peabody.«
Ich spürte, daß ich errötete. »Ja, Emerson, ich verstehe. Trotzdem tut sie mir leid. Sie konnte ja nicht ahnen, was sie erwartete.«
»Ich versuchte, es ihr zu erklären. Forth war auf dem Bett zusammengesunken und lag nun da, schnarchend und die Schachtel mit dem Armband mit beiden Händen umklammernd. Ich sprach mit ihr wie ein Bruder, Peabody. Ich sagte ihr, es sei Wahnsinn, in eine derartige Gegend zu reisen, und auch, daß er verrückt sei, sie überhaupt mitzunehmen. Ich hätte genausogut zu einem elfenbeinernen Standbild reden können. Schließlich gab sie mir zu verstehen, daß meine Anwesenheit ihr lästig sei, und ich verabschiedete mich. Wie ich zu meinem Bedauern gestehen muß, knallte ich die Tür hinter mir zu. Seitdem habe ich die beiden nicht mehr gesehen.«
»Aber die Karte, Emerson«, meinte ich. »Wann hast du …«
»Oh«, hüstelte Emerson. »Die Karte. Nun, zum Teufel, Peabody, ich hatte auch einige Gläser intus, und ich hatte einige arabische Schriftsteller aus dem Mittelalter gelesen …«
»Das Buch der verborgenen Perlen?«
Emerson grinste verlegen. »Verdammt, Peabody, du bist mir immer einen Schritt voraus. Das muß an deiner blühenden Phantasie liegen. Aber selbst die unglaubwürdigsten Legenden enthalten oft ein Körnchen Wahrheit. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß es in der westlichen Wüste unbekannte Oasen gibt, viel südlicher noch als die Oasen Ägyptens, von denen wir wissen. In seinem Buch aus dem Jahr 1835 erwähnt Wilkinson drei; Araber hatten ihm davon berichtet. Die Bevölkerung von Dakhla – eine der bekanntesten Oasen in Südägypten – erzählte sich Geschichten über Fremde, hochgewachsene schwarze Männer, die aus dem Süden kamen. Und El Bekri, ein Schriftsteller aus dem elften Jahrhundert, schildert eine Riesin, die in Dakhla gefangengenommen wurde; sie habe eine unverständliche Sprache gesprochen, und als man sie freiließ, um sie bis zu ihrem Herkunftsort verfolgen zu können, lief sie davon und entfloh.«
»Faszinierend«, hauchte Evelyn. »Aber was ist mit dem Buch der verborgenen Perlen ?«
»Ach, das ist wirklich nichts als Legende«, antwortete Emerson mit einem freundlichen Lächeln. »Es handelt sich um ein mystisches Werk aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das Geschichten von vergrabenen Schätzen erzählt. Einer der erwähnten Orte ist Zerzura, die weiße Stadt, wo der König und die Königin auf ihrem Thron schlafen. Der Schlüssel zu dieser Stadt liegt im Schnabel eines Vogels, der ins große Tor eingeschnitzt ist. Aber wenn man den Schatz holen will, darf man den König und die Königin nicht wecken.«
»Das ist nur ein Märchen«, meinte Walter zweifelnd.
»Natürlich. Allerdings wird Zerzura auch in anderen Quellen erwähnt. Der Name ist wahrscheinlich aus dem arabischen zarzar abgeleitet, was Spatz bedeutet. Also heißt Zerzura: >Die Stadt der kleinen Vögel<. Und es gibt weitere Geschichten, weitere Hinweise …« Emersons Gesicht nahm den nachdenklichen, verträumten Ausdruck an, den nur wenige Menschen in seinem Bekanntenkreis je beobachten dürfen. Er gibt sich gern als reiner Verstandesmensch und hat für müßige Phantasien nichts als Hohn übrig. In Wirklichkeit aber ist der Gute so sensibel und sentimental, wie man es Frauen für gewöhnlich zum Vorwurf macht (obwohl Frauen meiner Erfahrung nach um einiges praktischer veranlagt sind als
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