Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Emerson! Ich verstand die Welt nicht mehr.
Nur das mütterliche Mitgefühl mit einem Vater, den der Verlust eines geliebten Kindes um den Verstand gebracht hat, hinderte mich daran, seine Hand wegzustoßen. »Lord Blacktower«, fing ich an.
»Ich weiß, was Sie sagen wollen.« Sein Griff wurde fester. »Sie glauben mir nicht. Reginald hat Ihnen wahrscheinlich erzählt, ich sei ein vertrottelter alter Mann, der sich an eine Wahnidee klammert. Aber ich habe Beweise, Mrs. Emerson – eine Botschaft von meinem Sohn, die Einzelheiten enthält, über die nur er Bescheid wissen kann. Ich habe sie vor einigen Tagen erhalten. Finden Sie ihn, und ich werde Ihnen geben, was Sie verlangen. Ich möchte Sie nicht beleidigen, indem ich Ihnen Geld anbiete …«
»Das wäre auch Zeitverschwendung«, entgegnete ich kühl.
Er fuhr fort, als habe er mich nicht gehört. »… obgleich ich es als Ehre betrachten würde, Ihre zukünftigen Expeditionen finanzieren zu dürfen, und zwar mit einer Summe in jeder beliebigen Höhe. Möglicherweise hat Ihr Gatte auch Interesse an einem Lehrstuhl in Archäologie. Oder an einem Adelstitel. Lady Emerson, klänge das nicht gut?«
Sein Tonfall war derb geworden, und seine Ausdrucksweise – ganz zu schweigen von seiner Hand – wurde zunehmend vertraulicher. Allerdings war nicht die Beleidigung seiner Frau, sondern die seiner eigenen Person Ursache dafür, daß Emerson endlich das Wort ergriff.
»Sie verschwenden immer noch Ihre Zeit, Lord Blacktower. Ich pflege nicht für Auszeichnungen zu bezahlen, und ich lasse auch nicht zu, daß ein anderer das an meiner Statt tut.«
Der alte Mann lachte brüllend auf. »Ich fragte mich schon, was ich tun muß, um Sie zu provozieren, Herr Professor. Ich weiß, daß jeder Mann seinen Preis hat. Aber der Ihre ist wohl zu hoch für mich. Ich glaube, ich habe Sie ganz richtig eingeschätzt. Nichts von dem, was ich Ihnen angeboten habe, könnte Sie in Versuchung führen. Allerdings wüßte ich etwas, das auch Sie nicht abtun werden. Hier – sehen Sie sich das an.«
Er griff in die Tasche und zog einen Briefumschlag heraus. Ich strich meine Röcke glatt. Mir kam es vor, als spürte ich immer noch den Abdruck seiner Hand – brennend und gleichzeitig kalt – auf meiner Haut.
Emerson nahm den unversiegelten Umschlag entgegen. Vorsichtig, wie er es bei zerbrechlichen Antiquitäten tut, zog er einen langen, flachen Gegenstand heraus. Er war beige und zu dick, um aus gewöhnlichem Papier zu bestehen, aber es stand etwas darauf geschrieben. Ich konnte die Worte nicht entziffern.
Schweigend studierte Emerson die Schrift eine Weile. Dann kräuselte er spöttisch die Lippen. »Eine außergewöhnlich unverfrorene und schlechte Fälschung.«
»Fälschung! Dann handelt es sich also nicht um Papyrus?«
»Das schon«, räumte Emerson ein. »Und er ist vergilbt und brüchig genug, um aus dem alten Ägypten zu stammen. Allerdings ist die Schrift weder alt noch ägyptisch. Was soll dieser Unsinn?«
Der alte Mann bleckte die Zähne, deren Farbe der des Papyrus glich. »Lesen Sie es, Herr Professor. Lesen Sie die Botschaft laut.«
Emerson zuckte die Achseln. »Nun denn. >Der junge Löwe grüßt den alten Löwen. Dein Sohn und deine Tochter leben; doch nicht mehr lang, wenn nicht bald Hilfe kommt. Blut ruft Blut, alter Löwe; ist jedoch der Ruf nicht stark genug, suche die Schätze der Vergangenheit an jenem Ort, wo ich dich erwarte.< Von allen kindischen …«
»Kindisch, das ist richtig. Es begann, als er ein Knabe war und Romane und Abenteuergeschichten las, und entwickelte sich zu einer Art Geheimsprache. Er schrieb sonst an niemanden so – keiner wußte davon. Und es wußte auch keiner, daß er mich den alten Löwen nannte.« In diesem Augenblick sah er wirklich aus wie ein alter Löwe – ein müder, alter Löwe mit hängendem Kiefer und Augen, die tief in runzeligen Höhlen lagen.
»Es ist trotzdem eine Fälschung«, beharrte Emerson stur. »Eine geschicktere, als ich ursprünglich glaubte, aber nichtsdestotrotz eine Fälschung.«
»Verzeih, Emerson, aber du denkst in die falsche Richtung«, wandte ich ein. Obwohl Emerson mir einen verärgerten Blick zuwarf, fuhr ich fort: »Nehmen wir doch einmal an, diese Botschaft stammt tatsächlich von Mr. Willoughby Forth. Möglicherweise war er all die Jahre lang Gefangener oder wurde sonst irgendwie festgehalten. Nehmen wir weiterhin an, ein wagemutiges Paar – äh – das heißt, ein wagemutiger Abenteurer wäre
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