Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
peinlich, besonders wenn die Begrüßung (wie bei einer Gelegenheit) von einem weiblichen Wesen kam, deren geschminkte Lippen und freizügige Kostümierung wenig Zweifel an ihrem Beruf ließen.
Unsere Kabinen, obwohl weit entfernt von der Sauberkeit, auf der ich normalerweise bestehe, waren recht gemütlich.
Trotz einiger Unbequemlichkeiten (und der bereits geschilderten peinlichen Erlebnisse) genoß ich die Reise sehr. Da mir die Gegend südlich von Assuan fremd war, wurde ich es nicht müde, die beeindruckend schroffe Landschaft und die Ruinen, die das Ufer säumten, zu betrachten.
Selbstverständlich machte ich mir umfangreiche Notizen, doch da ich beabsichtige, meinen Bericht anderweitig zu veröffentlichen, werde ich dem geneigten Leser Einzelheiten ersparen. Allerdings komme ich nicht umhin, einen Anblick zu erwähnen, der sich meinem Auge bot: Es ist unmöglich, an dem majestätischen Tempel von Abu Simbel vorbeizufahren, ohne ein Wort des Respekts und der Wertschätzung fallenzulassen.
Dank meiner sorgfältigen Vorbereitungen und der freundlichen Mithilfe von Emersons Freund, dem Kapitän, erreichten wir dieses atemberaubende Gebäude bei Sonnenaufgang, und zwar an einem von zwei Tagen im Jahr, an dem die Strahlen der Sonne, die über den Bergen im Osten aufgeht, geradewegs durch den Eingang in die entfernteste Nische des Altarraums dringen, wo sie wie eine himmlische Flamme auf dem Altar ruhen. Die Wirkung war ehrfurchtgebietend, und selbst nachdem die Sonne gestiegen und der pfeilähnliche Lichtstrahl verblaßt war, ließ uns der Anblick reglos an der Reling verharren. Vier riesige Statuen von Ramses II. bewachen den Eingang und begrüßen mit imposanter Würde das tägliche Eintreffen des Gottes, dem zu Ehren der Tempel erbaut worden war. So halten sie es Tag um Tag, schon seit fast dreitausend Jahren.
Ramses stand neben uns an der Reling; seiner sonst so ungerührten Miene sah man an, daß er bewegt war, als er das gewaltige Bauwerk des Herrschers betrachtete, dessen Namen er trug. (Eigentlich war er ja nach seinem Onkel benannt worden, doch schon als kleines Kind hatte sein Vater ihm diesen Spitznamen gegeben. Er behauptete, der Knabe erinnere ihn in seiner herrschsüchtigen Art und seiner monomanischen Ichbezogenheit an den egoistischsten aller Pharaonen. Der Name war meinem Sohn geblieben, und zwar aus Gründen, die allen Lesern meiner Berichte bekannt sein sollten.)
Nun aber werden Sie sich wahrscheinlich fragen, was Ramses hier an der Reling des Dampfers zu suchen hatte. Er hätte doch eigentlich in der Schule sein sollen.
Er war nicht in der Schule, denn die Akademie für junge Gentlemen hatte sich außerstande gesehen, ihn aufzunehmen. Dieses Wort – »außerstande« – hatte der Direktor gebraucht. Er behauptete, er habe keinen Platz für einen weiteren Zögling. Möglicherweise sprach er die Wahrheit. Ich konnte ihm das Gegenteil nicht beweisen. Und ich konnte mir auch keinen anderen Grund vorstellen, warum man meinen Sohn nicht an einer Schule für junge Gentlemen hätte aufnehmen sollen.
Das meine ich nicht ironisch, obwohl einem Menschen, der meine Kommentare zu meinem Sohn kennt, dieser Verdacht kommen könnte. Doch Ramses hatte sich in den letzten Jahren sehr gebessert (oder ich hatte mich an ihn gewöhnt; es heißt ja, man kann sich an alles gewöhnen).
Damals war er zehn Jahre alt und hatte seinen Geburtstag im vergangenen Spätsommer gefeiert. In den letzten Monaten war er wie die meisten Jungen seines Alters ziemlich in die Höhe geschossen. Wahrscheinlich würde er einmal so groß werden wie sein Vater, obwohl er sicherlich nicht dessen wohlgeformte Gestalt geerbt hatte. Seine Züge waren immer noch zu groß für sein mageres Gesicht, aber ich hatte in letzter Zeit den Ansatz eines Grübchens an seinem Kinn entdeckt, ähnlich dem, das Emersons ebenmäßigem Gesicht solchen Charme verleiht. Ramses verabscheute ebenso wie sein Vater Anspielungen auf dieses Merkmal. Ich muß zugeben, daß die pechschwarzen Locken des Jungen und die olivenfarbene Haut ihn eher wie einen jungen Araber – aus guter Familie – als wie einen englischen Knaben wirken ließen. Doch daß er ein Gentleman war, wenigstens von seiner Abstammung her, konnte niemand bestreiten. Daß sich seine Manieren gebessert hatten, war vor allem auf meine unermüdlichen Bemühungen zurückzuführen, obwohl die natürlichen Folgen des Reifungsprozesses selbstverständlich auch eine Rolle spielten. Die meisten
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