Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
kleinen Jungen sind Barbaren. Es ist ein Wunder, daß der Großteil von ihnen das Erwachsenenalter überhaupt erreicht.
Ramses hatte inzwischen bis zu seinem zehnten Lebenjahr durchgehalten – und seine selbstzerstörerischen Neigungen traten nun weniger zutage. Deshalb erfüllte mich der Gedanke daran, daß er uns begleitete, zwar nicht mit Begeisterung, aber ich sah es auch nicht mehr als Katastrophe. Insbesondere deshalb, weil ich keine andere Wahl hatte. Emerson hatte sich geweigert, gemeinsam mit mir Druck auf den Direktor der Akademie für junge Gentlemen auszuüben. Er hatte Ramses schon von Anfang an in den Sudan mitnehmen wollen.
Ich legte meine Hand auf die Schulter des Jungen. »Nun, Ramses, ich hoffe, du weißt es zu schätzen, daß deine Eltern die Güte haben, dir solche Möglichkeiten zu eröffnen. Beeindruckend, findest du nicht?«
Ramses’ markante Nase zuckte skeptisch. »Prunkvoll und grandios. Verglichen mit dem Tempel in Deir el-Bahri allerdings …«
»Was für ein gräßlicher kleiner Snob du bist!« rief ich aus. »Hoffentlich erfüllen die Kunstschätze in Napata deine überzogenen Erwartungen.«
»Aber er hat eigentlich recht«, meinte Emerson. »In einem solchen Tempel liegt keine architektonische Subtilität, kein Geheimnis, er ist einfach nur groß. Die Tempel am Gebel Barkal dagegen …«
»Tempel, Emerson? Du hast mir Pyramiden versprochen.«
Emerson richtete seinen Blick starr auf die Fassade des Tempels, der nun in seiner majestätischen Gesamtheit von der Sonne beschienen wurde. »Äh … sicher, Peabody. Aber wir sind bei der Wahl unserer Ausgrabungsorte eingeschränkt. Nicht nur durch die verdammten Militärbehörden, sondern auch durch … durch … durch ein gewisses Individuum, dessen Namen ich nicht mehr ausspreche, wie ich geschworen habe.«
Ich hatte ihn aufgefordert, Mr. Budges Namen nicht mehr in den Mund zu nehmen, solange er das nicht konnte, ohne zu fluchen (er konnte es nicht). Unglücklicherweise aber war ich nicht in der Lage, andere daran zu hindern, Budges Namen zu erwähnen. Er war vor uns angekommen, und jeder, dem wir begegneten, sprach uns auf ihn an – wahrscheinlich in der Absicht, uns damit, daß wir einen gemeinsamen Bekannten hatten, eine Freude zu machen.
Ramses lenkte Emerson ab, indem er auf die Reling kletterte, was ihm eine Gardinenpredigt über die Gefahren des Über-Bord-Fallens einbrachte. Ich belohnte meinen Sohn mit einem beifälligen Lächeln. Es hatte niemals die geringste Gefahr bestanden, daß er über Bord fiel, denn er kletterte wie ein Affe. Mit derartigen Beschäftigungen und einigen hitzigen Debatten über archäologische Themen verbrachten wir eine angenehme Zeit bis zu unserer Ankunft in Wadi Haifa.
Haifa, wie man es allgemein nennt, war einst eine kleine Ansammlung von Lehmhütten gewesen. Als sich jedoch die britischen Truppen im Jahr 1885 aus Khartum zurückzogen, machten sie das Dorf zum südlichen Grenzposten. Heute ist es ein geschäftiges Städtchen, wo Vorräte und Waffen für die weiter südlich stationierten Truppen gelagert werden. Nachdem ich einen jungen Offizier um Rat gefragt hatte, kaufte ich Konserven in rauhen Mengen, Zelte, Moskitonetze und weitere Ausrüstungsgegenstände. Emerson und Ramses hatten sich allein auf einen Erkundungsgang begeben. Diesmal beschwerte ich mich nicht darüber, daß sie mich im Stich ließen, denn Emerson kommt nicht gut mit Militärangehörigen zurecht. Captain Buckman war genau die Sorte junger Engländer, die meinen Gatten ganz besonders auf die Palme brachte – vorstehende Zähne, kein nennenswertes Kinn und die Angewohnheit, beim Lachen den Kopf zurückzuwerfen. Das Lachen selbst klang wie ein schrilles Keuchen. Trotzdem war er mir eine große Hilfe. Er bewunderte Mr. Budge, den er im September kennengelernt hatte. »Ein ganz normaler Bursche, nicht wie die anderen Archäologen, wenn Sie verstehen, was ich meine, Ma’am.«
Ich verstand, was er meinte, verdrückte mich nach angemessenen Dankesbezeugungen und machte mich auf die Suche nach meiner verschollenen Familie. Wie erwartet, hatte Emerson einige »alte Bekannte« in Haifa und war bei einem von ihnen zu Gast, mit dem wir ohnehin eine Verabredung hatten. Sein Name war Sheikh Mahmud al-Araba. Nach nubischen Maßstäben ähnelte sein Haus einem Palast. Es bestand aus Lehm und war rund um einen von hohen Mauern umgebenen Innenhof gebaut. Ich hatte mich schon auf eine Auseinandersetzung mit dem Türhüter gefaßt
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