Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
gemacht, da diese Leute mich meistens in den Harem anstatt vor den Herrn des Hauses führen wollten. Doch diesmal war der alte Mann offenbar vorgewarnt worden; er begrüßte mich mit salaam und rief immer wieder marhaba (willkommen), ehe er mich in den Salon brachte. Dort saßen der Scheich, ein weißbärtiger, aber stattlicher Mann, und mein Gatte nebeneinander auf einer Bank an der Wand. Sie rauchten narghilas (Wasserpfeifen) und betrachteten dabei die Darbietung einer jungen Frau, die sich, begleitet von dem Jaulen einer kleinen Kapelle (bestehend aus zwei Trommlern und einem Flötenspieler), durchs Zimmer schlängelte. Ihr Gesicht war verschleiert. Vom Rest ihrer Gestalt konnte man das nicht behaupten.
Emerson sprang auf. »Peabody! Ich hatte dich nicht so früh erwartet.«
»Ganz offensichtlich«, gab ich zurück, erwiderte dann die würdevolle Begrüßung des Scheichs und nahm auf seine Aufforderung hin Platz. Die Kapelle wimmerte weiter, das Mädchen fuhr fort, sich zu winden, und Emersons hohe Wangenknochen nahmen die Farbe einer reifen Pflaume an. Sogar die intelligentesten Männer legen in ihrem Umgang mit Frauen eine gewisse Inkonsequenz an den Tag. Emerson behandelte mich wie einen gleichberechtigten Menschen (mit weniger hätte ich mich auch nicht zufriedengegeben), wenn es sich um geistige Belange drehte. Jedoch war er nicht in der Lage, seine albernen Vorstellungen von der Empfindsamkeit des weiblichen Geschlechts über Bord zu werfen. Die Araber hingegen behandelten mich um einiges vernünftiger, obwohl sie mit ihren eigenen Frauen schlichtweg schändlich umgingen. Da sie offenbar beschlossen hatten, mich als eine Art weiblichen Mann zu betrachten, bewirteten sie mich wie ihre übrigen Gäste.
Als die Darbietung vorüber war, applaudierte ich höflich, was die junge Frau anscheinend überraschte. Nachdem ich dem Scheich mein Lob ausgesprochen hatte, fragte ich: »Wo ist Ramses? Wir müssen los, Emerson. Ich habe Anweisung gegeben, die Vorräte ans Pier zu liefern, aber ohne deine Aufsicht …«
»Ganz recht«, meinte Emerson. »Am besten holst du Ramses sofort. Die Damen unterhalten ihn gerade – oder umgekehrt.«
»Ach, du meine Güte«, sagte ich und erhob mich rasch. »Ja, am besten hole ich ihn sofort – und«, fügte ich in Arabisch hinzu, »ich würde gern den Damen des Hauses meine Aufwartung machen.«
Außerdem, so dachte ich bei mir, wollte ich mit der jungen Frau ein Wörtchen reden, die den – wahrscheinlich hätte sie es »Tanz« genannt – für uns aufgeführt hatte. Ich hätte mich wie eine Verräterin an meinem Geschlecht gefühlt, hätte ich mir die Gelegenheit entgehen lassen, den armen unterdrückten Geschöpfen im Harem einen Vortrag über ihre Rechte und Privilegien zu halten – obwohl wir Engländerinnen bei Gott ebenfalls noch lange nicht alle Rechte besitzen, auf die wir eigentlich Anspruch hätten.
Ein Diener führte mich durch den Hof, wo ein kleiner Brunnen im Schatten einiger magerer Palmen plätscherte, in den Teil des Hauses, der den Frauen vorbehalten war. Dort war es dunkel und heiß wie in einem Dampfbad. Selbst die Fenster, die auf den Hof hinausgingen, waren mit durchbrochenen Läden verschlossen, damit auch ja kein kühnes, männliches Auge einen Blick auf die verbotenen Schönheiten dahinter erhaschte. Der Scheich hatte drei Ehefrauen, obwohl das islamische Recht ihm eigentlich vier zugestanden hätte. Dazu verfügte er noch über eine Anzahl von Dienerinnen – Konkubinen, um es geradeheraus zu sagen. Sie alle hatten sich in einem Zimmer versammelt, und schon aus der Ferne hörte ich Kichern und Aufschreie schriller Stimmen. Ich rechnete mit dem Schlimmsten, da Ramses’ Arabisch sehr fließend und dazu umgangssprachlich gefärbt ist, doch dann stellte ich fest, daß ich seine Stimme in dem Tumult nicht ausmachen konnte. Wenigstens unterhielt er die Damen also nicht mit schmutzigen Witzen oder anzüglichen Liedern.
Als ich hereinkam, verstummten die Frauen und schienen sichtlich erschrocken. Doch nachdem sie erkannt hatten, daß ich es war, beruhigten sie sich wieder. Eine von ihnen – ihrer Aufmachung und gebieterischen Art nach zu urteilen, die Hauptfrau – trat vor, um mich zu begrüßen. Ich war es gewöhnt, daß Haremsdamen sich um mich drängten. Die Armen hatten so wenig Abwechslung im Leben, daß eine Europäerin ihnen wie ein Wesen von einem anderen Stern erscheinen mußte. Doch diesmal wandten sie ihre Aufmerksamkeit nach einem kurzen Blick
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