Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
er nur die sichtbaren Körperteile waschen würde. Als ich meine nilgrünen Rüschen durch den Sand schleppte, während sich spitze Steine schmerzhaft durch die dünnen Sohlen meiner Abendschuhe bohrten, wünschte ich mir fast, Emerson hätte das kleine Zelt des Jungen nicht so weit entfernt von unserem aufgestellt. Er hatte jedoch sehr triftige Gründe dafür, und im großen und ganzen wurden die Nach- von den Vorteilen übertroffen. (Selbst im Licht der nun folgenden Ereignisse halte ich an dieser Auffassung fest.)
Ramses hatte nicht einmal die sichtbaren Körperteile gewaschen. Er saß auf einem Klappstuhl vor einer Kiste, die ihm als Tisch und als Schreibtisch diente. Ihre Oberfläche war mit Papierfetzen bedeckt, und er kritzelte eifrig in das abgewetzte, mit Stoff eingebundene Notizbuch, das ihn überallhin begleitete.
Er begrüßte mich mit der üblichen pedantischen Höflichkeit, die eher zu einem würdigen alten Herrn als zu einem kleinen Jungen gepaßt hätte. Dann bat er mich um noch eine Minute Aufschub, damit er seine Aufzeichnungen beenden könne.
»Nun gut«, sagte ich. »Aber du mußt dich beeilen. Es ist unhöflich, zu spät zu kommen, wenn man zum Abendessen eingeladen ist. Was schreibst du denn da Wichtiges?«
»Ein Wörterbuch des Dialekts, den Kemit und seine Freunde sprechen. Die Schreibweise ist gezwungenermaßen phonetisch; ich benutze das System, das abgeleitet …«
»Schon gut, Ramses. Beeil dich lieber.« Als ich ihm über die Schulter blickte, stellte ich fest, daß er das Vokabular in Form von Redewendungen geordnet hatte, wobei für jedes Wort einige Seiten freigelassen waren. Keines der Wörter war mir bekannt, denn ich war in nubischen Dialekten kaum bewandert. Zu meiner Freude beinhaltete Kemits Sprachunterricht keine Vokabeln, an denen ich hätte Anstoß nehmen können, abgesehen von einigen Substantiven, die Teile der menschlichen Anatomie bezeichneten.
Nachdem Ramses fertig war, bot er mir seinen Klappstuhl an, den ich mit nach draußen nahm. Beim Hinausgehen schloß ich den Zelteingang hinter mir. Vor einigen Jahren hatte Ramses darauf bestanden, allein gelassen zu werden, wenn er sich wusch oder seine Kleidung wechselte. Diesem Wunsch war ich nur zu gern nachgekommen, denn das Säubern von kleinen, zappelnden Jungen hat noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. (Das Kindermädchen, das Ramses damals betreute, hatte auch nichts dagegen einzuwenden.)
Ich hatte mit Emerson vereinbart, er solle sich uns anschließen, sobald er fertig sei. Es machte mir nichts aus zu warten; an diesem Abend strahlte der Sonnenuntergang besonders hell. Er ähnelte einem goldenen und scharlachroten Feuerwerk, das sich leuchtend vom tiefen Azurblau des Himmels abhob. Vor diesen beweglichen Lichtern ragten die schartigen, dunklen Silhouetten der Pyramiden auf. Nachdenklich, wie ich nun einmal bin, grübelte ich über die Eitelkeit menschlichen Strebens und die Vergänglichkeit menschlicher Leidenschaften nach. Einst war diese schuttübersäte Wildnis eine heilige Stätte gewesen, geschmückt mit »allen schönen und guten Dingen« – wie die damaligen Menschen es ausdrückten. Beeindruckende Standbilder ruhten in Nischen aus behauenem und bemaltem Stein; weißgewandete Priester versahen gewissenhaft ihre Pflicht, Speiseopfer und Schätze auf den Altären der verstorbenen Könige darzubringen. Als die Schatten dunkler wurden und die Nacht sich am Himmel ausbreitete, hörte ich plötzlich leises Flügelrauschen. War es der menschenköpfige Seelenvogel, der ba eines längst dahingeschiedenen Pharao, der zurückkam, um sich in seiner Kapelle an Speise und Trank zu laben? Nein. Nur eine Fledermaus. Der arme ba wäre schon längst verhungert, wäre er auf die Opfer der Priester angewiesen gewesen.
Emersons Getrampel riß mich jäh aus meinen poetischen Gedanken. Wenn er will, kann er sich so schnell und lautlos bewegen wie eine Katze; diesmal aber wollte er nicht, denn er hatte keine Lust auf eine Einladung zum Essen. Ich muß zugeben, daß dies meistens der Fall ist.
»Bist du das, Peabody?« rief er. »Es ist so finster, ich sehe kaum, wo ich hintrete.«
»Warum hast du keine Laterne mitgebracht?« fragte ich.
»Wir werden sie nicht brauchen. Der Mond geht bald auf«, erwiderte Emerson in einem der Anfälle von Unlogik, die Männer sonst immer den Frauen vorwerfen. »Wo ist Ramses? Wenn es schon sein muß, bringen wir es besser hinter uns.«
»Ich bin fertig, Papa«, antwortete
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