Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
bot, als dieser die Augen aufschlug, ausgerechnet Kemits hochgewachsene Gestalt, die sich im Lichtkegel der Laterne näherte. Ein spitzer Schrei entrang sich den Lippen des Verwundeten: »Mörder! Schurke! Bist du zurückgekommen, um dein Werk zu vollenden?«
»Mr. Forthright, Sie fangen an, lästig zu werden«, meinte Emerson gereizt. »Danke, Kemit, ich werde schon mit ihm fertig.« Er hob den jungen Mann in seine kräftigen Arme.
Reggies Kopf war gegen Emersons Schulter gesunken. Er war wieder bewußtlos. Ich mußte meinem Gatten beipflichten. Reggie fing an, ein wenig lästig zu werden, vor allem, wenn es um Kemit ging. Was hatte er mitten in der Nacht so weit entfernt von seinem Zelt zu suchen gehabt?
Auf allen vieren und die Nase so dicht am Boden, daß er einem Jagdhund auf der Fährte ähnelte, untersuchte Ramses die mit viel Blut verschmierte Stelle, an der Reggie gelegen hatte.
»Steh auf, Ramses«, sagte ich angewidert. »Deine morbide Neugier ist abstoßend. Entweder gehst du wieder zu Bett, oder du kommst mit mir.«
Wie ich erwartet hatte, entschied sich Ramses, mich zu begleiten. Als wir Reggies Zelt erreichten, stand Ahmed davor und rieb sich demonstrativ und wenig überzeugend die Augen. »Hast du gerufen, Effendi ?«fragte er.
»Das habe ich in der Tat«, erwiderte Emerson, dessen Gebrüll eigentlich laut genug gewesen wäre, um Tote aufzuwecken. »Verdammt, Ahmed, offenbar bist du nicht nur taub, sondern auch blind. Siehst du denn nicht, daß dein Herr verletzt ist?«
Ahmed fuhr theatralisch zusammen. » Wallahi-el-azem !Es ist der junge Effendi .Was ist geschehen, oh Vater der Flüche?«
Emerson schickte sich an, sein Anrecht auf diesen Titel derart überzeugend unter Beweis zu stellen, daß Ahmed in Windeseile die Lampen anzündete und das Bett seines Herrn vorbereitete. Reggie hatte einen gut ausgestatteten Erste-Hilfe-Koffer bei sich. Ich brauchte nicht lange, um die Wunde zu reinigen und zu verbinden, denn es handelte sich nur um einen kleinen Schnitt, der nicht einmal genäht werden mußte.
Ein Schluck Brandy ließ Reggie bald wieder zu Bewußtsein kommen, und seine ersten Worte bestanden in Entschuldigungen, weil er mir solche Umstände gemacht hatte.
»Was zum Teufel hatten Sie mitten in der Nacht vor dem Zelt meines Sohnes verloren?« fragte Emerson.
»Ich bin spazierengegangen«, antwortete Reggie mit schwacher Stimme. »Ich konnte nicht schlafen, warum, weiß ich nicht. Ich dachte, ein wenig Bewegung würde mir guttun. Als ich mich dem Zelt des Jungen näherte, sah ich … sah ich …«
»Sie dürfen nicht mehr sprechen«, sagte ich. »Sie brauchen Ruhe.«
»Nein, ich muß es Ihnen erzählen.« Er griff nach meiner Hand. »Sie müssen mir glauben. Das Zelt stand offen, und eine bleiche, geisterhafte Gestalt erschien. Ich erschrak ziemlich, bis mir klar wurde, daß es Master Ramses sein mußte. Natürlich nahm ich an, er müsse … daß er das Bedürfnis hatte …«
»Schon gut, reden Sie weiter«, forderte ich ihn auf.
»Ich wollte mich gerade zurückziehen, als ich eine zweite Gestalt sah. Dunkel wie ein Schatten und so groß wie ein junger Baum, glitt sie auf den Knaben zu. Ramses näherte sich ihr langsam. Sie trafen sich, und die Gestalt streckte die Arme aus, um nach dem Jungen zu greifen. Diese Geste riß mich aus meiner Starre. Da ich begriff, daß Ramses in Gefahr schwebte, eilte ich ihm zur Hilfe. Ich muß nicht betonen, daß ich unbewaffnet war. Ich rang mit dem Mann – denn er hatte stählerne Muskeln und kämpfte so besessen wie ein wildes Tier.« Das Sprechen hatte ihn erschöpft, seine Stimme versagte, und er keuchte schwach: »An mehr erinnere ich mich nicht. Passen Sie gut auf den Jungen auf. Er …«
Ich legte ihm den Finger auf die Lippen. »Pssst, Reggie. Sie sind durch Schock und Blutverlust geschwächt. Keine Angst, wir werden auf Ramses achten. Hoffentlich kann die Dankbarkeit seiner liebenden Eltern Sie für Ihre Verletzungen entschädigen. Schlafen Sie ruhig in dem Wissen, daß Sie …«
»Ähem«, stieß Emerson hervor. »Wenn du willst, daß er schläft, Amelia, warum hörst du dann nicht auf zu reden?«
Dieser Vorschlag erschien mir vernünftig. Ich wies Ahmed an, seinen Herrn zu bewachen und mich sofort zu rufen, falls sich sein Zustand ändern sollte. Als wir zu unserem Zelt zurückkehrten, schlug ich Emerson vor, Ramses solle den Rest der Nacht lieber bei uns verbringen.
»Das kann er ruhig tun«, lautete Emersons Antwort. »Von der Nacht
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