Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
steckt am Schaft. Die Spitze ist stumpf, weil sie das Opfer nur betäuben, aber nicht töten sollte.«
»Ich verstehe.« Ich beugte mich vor, um den Pfeil genauer in Augenschein zu nehmen. Mir fiel auf, wie zierlich die Schmuckleiste war. »Er erinnert mich an etwas, doch ich weiß nicht mehr, wo ich es gesehen habe.«
»Nein? Dann werde ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.« Emersons Blick hing immer noch gebannt an dem zerbrochenen Pfeil. »Denk an die Jagdszenen in den Gräbern von Theben – dort hast du einen solchen Pfeil gesehen. Er ist mit den Waffen identisch, die die Adligen im alten Ägypten benutzten, wenn sie in den Steppen Vögel jagten. Identisch, Peabody, nur, daß er nicht mehr als ein paar Jahre alt sein kann.«
6. Kapitel
Der Geist eines kuschitischen Bogenschützen
Noch lange nachdem ich mich zu Bett gelegt hatte, saß Emerson schweigend im Lampenlicht und drehte mit der gebannten Begeisterung eines Sammlers, der ein seltenes Schmuckstück untersucht, den zerbrochenen Pfeil in den Händen. Er hatte sein Gewand abgestreift; Schatten spielten auf den breiten Muskelsträngen seiner Brust und Arme, betonten seine kräftigen Wangenknochen und seine Denkerstirn und ließen das Grübchen an seinem männlichen Kinn tiefer erscheinen. Dieser Anblick rief in mir die heftigsten Gefühle wach, und da ich sie umständehalber unterdrücken mußte, prägte sich besagter Anblick dauerhaft in mein Herz ein.
Natürlich wußte ich, was in ihm vorging, obwohl er sich geweigert hatte, die Angelegenheit zu erörtern. Zuerst einmal befürchtete er, ich würde ihn an seinen gedankenlosen Scherz über Reggies frühere Verletzung erinnern. »Der Geist eines kuschitischen Bogenschützen«, hatte er gesagt; und hier vor unseren Augen lag ein Stück eines Pfeils, der durchaus aus dem Besitz eines jener Krieger hätte stammen können. Auch wenn Bogen in dieser Gegend schon seit tausend Jahren nicht mehr im Gebrauch waren – ich war bereit, Emerson hierin Glauben zu schenken –, hatte das alte Kusch doch früher den Namen »Land des Bogens« getragen. (»Befehlshaber der kuschitischen Bogenschützen« lautete eine militärische Rangbezeichnung im Neuen Ägyptischen Reich.)
Schließlich schlief ich ein, und als ich aufwachte, war ich allein. Es herrschte eine unnatürliche Stille. Keine gebrüllten Befehle waren zu hören und auch nicht der monotone Gesang, mit dem die Männer sich sonst die harte Arbeit erleichterten … Doch dann fiel mir ein, daß heute ja Ruhetag war. Die Männer waren in ihre Dörfer zurückgekehrt. Trotzdem wunderte ich mich, daß Emerson sich bemüht hatte, mich nicht aufzuwecken. Und noch erstaunlicher war es, daß es Ramses gelungen war, das Zelt zu verlassen, ohne einen Höllenlärm zu veranstalten. Eine schreckliche Vorahnung ergriff mich. Ich sprang auf.
Diesmal hatte mich meine Vorahnung getrogen. Emerson saß vor dem Zelt auf einem Stuhl und trank in aller Seelenruhe seinen Tee. Er begrüßte mich mit einem fröhlichen »Guten Morgen« und verlieh der Hoffnung Ausdruck, daß ich gut geschlafen habe.
»Besser als du«, antwortete ich in Erinnerung daran, wie ich ihn in der letzten Nacht hatte dasitzen sehen. Außerdem bemerkte ich unter seinen Augen dunkle Ringe, die auf Schlafmangel hinwiesen. »Wo steckt Ramses? Wie geht es Reggie? Warum hast du mich nicht früher geweckt? Was …«
»Es ist alles in Ordnung, Peabody. Ich mache dir eine Tasse Tee, während du dir etwas Passendes anziehst.«
»Aber Emerson …«
»Mr. Forthright wird gleich zu uns stoßen. Seine Verletzung war weniger schwer, als du geglaubt hast. Komisch, daß seine Verletzungen immer weniger schwer sind, als du glaubst. Ich mache dir ja keinen Vorwurf daraus, daß du dich ihm letzte Nacht in diesem hübschen, aber durchscheinenden Kleidungsstück gezeigt hast – das schreibe ich deinem Zustand verständlicher Erregung zu –, doch eine Wiederholung dieses Fehltritts könnte zu Mißverständnissen führen.«
»Bei dir, meinst du wohl.«
»Bei mir, meine liebe Peabody.«
Zwischen Ärger und Belustigung hin und her gerissen, zog ich mich zurück und kam seiner Aufforderung nach. Als ich wieder aus dem Zelt kam, fand ich sie alle versammelt vor – Ramses kauerte auf dem Teppich, Reggie saß auf einem Stuhl neben Emerson. Er sprang mit einer Behendigkeit auf, die Emersons Einschätzung seines Gesundheitszustandes bestätigte, und beharrte darauf, mir einen Stuhl anzubieten, ehe er wieder auf dem
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