Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
verschwanden.
Noch nie hatte Emerson die Männer so angetrieben wie in den folgenden Tagen. Aufgrund des Umstandes, daß wir Reggie zwei unserer zuverlässigsten Arbeiter mitgegeben hatten, waren wir personell unterbesetzt (wozu auch noch beitrug, daß Kemits Freunde nie von ihrem »Ruhetag« zurückkehrten). Als ich Kemit nach ihnen fragte, schüttelte er nur den Kopf. »Sie waren Fremde in einem fremden Land. Sie sind zu ihren Frauen und Kindern zurückgekehrt. Vielleicht kommen sie wieder …«
»Papperlapapp«, sagte Emerson, weil es dazu nicht viel zu sagen gab. Es war nicht ungewöhnlich, daß die Männer genug von der Arbeit hatten oder das Heimweh die Oberhand gewann. Doch wir hatten gedacht, daß Kemits Freunde aus anderem Holz geschnitzt wären.
Ramses lag uns in den Ohren, wir sollten ihn wieder in seinem Zelt schlafen lassen. Er behauptete, daß ihn erstens Emersons Schnarchen wachhielte und es zweitens unwahrscheinlich sei, daß er noch einmal »gerufen« werde, wie er es formulierte. Die erste Behauptung war unwahr (Emerson schnarchte selten), und die zweite entbehrte jeglicher Grundlage. Als Kompromiß ließ Emerson Ramses’ Zelt neben unserem aufstellen und zog selbst dort ein. »Es ist wohl am besten so«, meinte er bedrückt. »Dir so nah zu sein, ohne meinen Gefühlen Ausdruck verleihen zu können, hat nachteilige Auswirkungen auf meine Gesundheit.« (Das ist eine Paraphrase von Emersons tatsächlichen Worten, die sich aufgrund ihrer Direktheit nicht für das Auge der Leserschaft eignen.)
Zum Glück für Emersons geistige und körperliche Gesundheit machten wir kurz darauf eine Entdeckung, die ihn vorübergehend ablenkte. Das Ereignis hätte in jeder Saison und an jeder Ausgrabungsstätte Aufsehen erregt, denn wir fanden ein bislang unbekanntes Bauwerk, ein Relikt von äußerster Wichtigkeit. Da wir inzwischen tagelange, langweilige Bestandsaufnahmen und fruchtlose Grabungen hinter uns hatten, begeisterte uns unser Fund, als wäre er eine mit Schätzen gefüllte Grabkammer. Der Gegenstand selbst war nicht sonderlich beeindruckend, denn es handelte sich nur um eine verwitterte Gesteinsplatte. Doch Emerson erkannte sie sofort als Oberschwelle eines kleinen, von Säulen gestützten Eingangs. Die Platte steckte tief im Sand, der zuerst von ihrer Oberfläche und ihrer Umgebung entfernt werden mußte. Emerson weigerte sich, den Stein zu heben – er äußerte sogar die Absicht, ihn wieder zu bedecken, nachdem er ihn eingehend untersucht und die Fundstelle schriftlich dokumentiert hatte.
Er kniete in dem schmalen Graben und wischte vorsichtig die erste Sandschicht von der Oberfläche ab. Die Männer hatten sich – ebenso atemlos vor Aufregung wie wir – um uns geschart. Falls sich die verwitterten Zeichen als Hieroglyphen entpuppen sollten, winkte dem glücklichen Finder ein ansehnlicher Bonus.
Da ich die Spannung nicht mehr ertragen konnte, legte ich mich an der Kante des Grabens flach auf den Bauch und blickte hinunter. Diese Bewegung lockerte den Sand, der dadurch auf den Stein und auf den gesenkten, unbedeckten Kopf meines Gatten hinabrieselte. Er blickte stirnrunzelnd auf. »Wenn du mich lebendig begraben willst, Peabody, mußt du nur so weiterzappeln.«
»Entschuldige, Liebling«, sagte ich. »Ich werde in Zukunft besser aufpassen. Nun? Sind es … ist es …?«
»Ja. Es handelt sich um eine königliche Inschrift. Die geschwungenen Kanten der Kartuschen sind eindeutig.«
Zwar versuchte er, ruhig zu sprechen, aber seine Stimme zitterte vor Aufregung. Seine langen, feinfühligen Finger strichen zärtlich über den Stein. »Herzlichen Glückwunsch, mein lieber Emerson!« rief ich aus. »Kannst du die Namen lesen?« (Wie ich meinen gebildeten Lesern sicherlich nicht zu erklären brauche, trugen die ägyptischen und kuschitischen Könige mehrere Namen; an offiziellen Gebäuden waren stets mindestens zwei davon angebracht.)
»Ich muß einen Abdruck anfertigen und warten, bis die Sonne in einem besseren Winkel fällt, ehe ich sicher sein kann«, antwortete Emerson. »Der Sandstein in dieser Gegend ist gottverflucht weich, er ist ziemlich verwittert. Aber ich glaube …« Er beugte sich vor und pustete vorsichtig gegen eine Ecke des Steins. »Ich sehe das Zeichen für n und darunter zwei lange, schmale Zeichen; das erste sieht aus wie ein Schilfblatt. Darauf folgen zwei weitere lange schmale Zeichen, und dann zwei Binsenhalme. Ja, ich glaube, ich kann eine Vermutung wagen. Die Zeichen
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