Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
die Kehle hinabgegossen, doch sie konnten meinen rasenden Durst nicht löschen. Doch am schlimmsten war, daß niemand auf meine Fragen nach meinem Mann antwortete. Ich lief endlose Korridore entlang, in denen mich Nebel umhüllten, und verfolgte eine Schattengestalt, die immer weiter vor mir zurückwich. Hatte ich meine Tugendhaftigkeit doch falsch eingeschätzt, so fragte ich mich? Ein erzürnter Gott hätte keine schlimmere Strafe über mich verhängen können, als mich dazu zu verurteilen, meinen geliebten Emerson vergeblich in den unendlichen Fluren der Ewigkeit zu suchen.
Nach langer, langer Suche stellte ich fest, daß ich nicht mehr rannte, sondern mich einen langen, abschüssigen Gang hinabschleppte. Hier waren Wände und Fußboden von einem stumpfen Grau. Vor mir erschien ein flackerndes Licht, das sich, als ich weiterging, in einen goldenen Schein verwandelte. Ich hörte Stimmen. Lachen erscholl, und dann vernahm ich die süßen Klänge von Musik. Doch obwohl mich diese Klänge willkommen zu heißen schienen, war mein Schritt verhalten, und ich stemmte mich gegen eine Macht, die mich gnadenlos voranzog. Vergeblich! Der Gang mündete in ein prächtiges Zimmer, das mit Blumen und frischem Grün geschmückt war. Das Licht darin strahlte heller als die Sonne. Dort erwartete mich eine Menschenmenge. Ganz vorne stand eine schöne Frau, deren schwere, schwarze Zöpfe mit Rosen durchflochten waren. Mit ausgestreckten Händen forderte sie mich auf, sie zu umarmen. Hinter ihr sah ich ein bekanntes Gesicht – das meines lieben, alten Kinderfräuleins, umrahmt von den steifen Rüschen ihrer Haube. Daneben erblickte ich ein ehrwürdiges Paar, das in der Mode des frühen neunzehnten Jahrhunderts gekleidet war. Ich kannte die beiden von den Porträts aus Papas Studierzimmer. Die anderen Gesichter hatte ich nie gesehen, aber ich wußte mit einer Gewißheit, die jegliche menschliche Erfahrung übersteigt, daß sie mir in einem früheren Leben ebenso lieb gewesen waren wie ich ihnen. Alle Gesichter lächelten, und alle Stimmen hießen mich willkommen.
Auch Kinder befanden sich darunter, doch keines hatte dunkle Haut und ein wenig zu groß geratene Gesichtszüge. Auch hatte keiner der kräftigen, stattlichen Männer leuchtendblaue Augen oder ein Grübchen auf dem Kinn.
Mit letzter Kraft rief ich den geliebten Namen wie einen Zauberspruch. Und endlich – endlich erhielt ich eine Antwort. »Peabody!« donnerte die wohlbekannte Stimme. »Komm sofort zurück!«
Das Licht verschwand, die Musik und das Gelächter wurden immer leiser und verklangen in einem langen Seufzer. Ich fiel durch die endlose Nacht in ein stilles, friedliches Nichts.
Als ich die Augen aufschlug, hatte das Bild, das ich vor mir sah, außergewöhnlich große Ähnlichkeit mit dem christlichen Himmel. Ein wolkenartiger Schleier aus Gaze bildete einen Baldachin über dem Bett, auf dem ich lag, und fiel fließend über seine Seiten. Die Vorhänge bewegten sich in der sanften Brise.
Ich versuchte aufzustehen. Aber ich mußte feststellen, daß ich kaum den Kopf heben konnte und das auch nicht für lange Zeit. Der Plumps, mit dem er wieder auf die Matratze fiel, überzeugte mich davon, daß ich weder träumte noch gestorben war. Also rief ich nach Emerson. Obwohl das Geräusch, das sich meiner Kehle entrang, kaum mehr war als ein Flüstern, führte es sofort zum gewünschten Ergebnis. Ich kannte die Schritte, die sich näherten, und als er die Vorhänge beiseite schob und sich über mich beugte, fand ich die Kraft, mich ihm in die Arme zu werfen.
Ich breite einen Schleier über die nun folgende Szene. Nicht, weil ich mich der Liebe, die Emerson und mich verbindet, oder der Art, wie wir sie zum Ausdruck bringen, schäme, sondern weil Worte nicht beschreiben können, welch innige Gefühle das Wiedersehen in uns auslöste. Ich setze meine Geschichte an jenem Punkt fort, da ich in den Armen meines geliebten Gatten lag. Inzwischen hatte ich mich ausreichend beruhigt, meine Umgebung wahrnehmen zu können.
Natürlich erkundigte ich mich zuerst nach Ramses. »Er hat sich wieder völlig erholt und steckt voller Neugier wie eh und je«, antwortete Emerson. »Er treibt sich irgendwo herum.«
Mit wachsendem Erstaunen sah ich mich im Zimmer um. Es war ziemlich groß. Die Wände trugen bunte Muster in Blau, Grün und Orange, die hier und da von gewebten Wandbehängen unterbrochen wurden. Zwei Säulen stützten die Decke. Das Bett stand auf Beinen, die Löwenpranken
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