Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
sein, Walters Kleider- und Schuhgröße richtig zu schätzen.
Als wir mit unseren wenigen Einkäufen zum Boot zurückkamen, hing die Sonne schon tief über den Klippen im Westen, und der Sonnenuntergang färbte das gekräuselte Wasser. Ich freute mich schon auf den Augenblick, da ich Walter wegschicken konnte – in die Badewanne, ins Bett, irgendwohin –, um unter vier Augen mit Evelyn zu sprechen. Aber es sollte anders kommen. Die anderen trafen gleichzeitig mit uns bei der Amelia ein.
Den Hut in der Hand, nahm Sir Edward mich beiseite. Er hatte sich angewöhnt, mit uns zu essen, doch nun verkündete er, er wolle sofort zum Hotel zurückkehren. »Heute abend möchten Sie bestimmt im Familienkreis speisen, Mrs. Emerson. Sie brauchen mir morgen das Boot nicht zu schicken. Ich nehme einfach die Fähre und gehe direkt zur Ausgrabungsstätte.«
Das war eine nette Geste und eines Gentlemans würdig, was ich ihm auch sagte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, morgen Miss Marmaduke mitzubringen, Sir Edward?«
»Keineswegs. Vielleicht bitte ich sie – natürlich mit Ihrer Erlaubnis –, heute abend mit mir zu essen. Sie macht einen so schüchternen, verängstigten Eindruck. Möglicherweise gelingt es mir, sie ein wenig aufzubauen.«
Ich wollte schon antworten, als Emerson aus dem Korridor auftauchte, der zu den Kabinen führte. »Was zum Teufel tust du da, Amelia? Ich warte auf dich.«
Sir Edward machte sich aus dem Staub, und ich versuchte, Emerson zu beruhigen, indem ich ihm berichtete, worüber wir gesprochen hatten.
»Hmpf«, brummte Emerson, während wir zu unserer Kabine gingen. »Also hat er seine Aufmerksamkeit jetzt Miss Marmaduke zugewendet.«
»Wenn das nur so wäre.«
»Aber Peabody, du schockierst mich!« Wieder ausgezeichneter Stimmung, kniete er nieder und fing an, mir die Stiefel aufzuschnüren. (Wenn wir allein sind, läßt er sich hin und wieder zu sentimentalen Gesten hinreißen wie ein kleiner Junge.) »Du würdest doch einen Lebemann wir Sir Edward nicht auf eine schüchterne alte Jungfer loslassen!«
»Wenn sie wirklich eine schüchterne alte Jungfer wäre, würde ihr ein solches Erlebnis nicht schaden.« Emerson kicherte, und ich fuhr fort: »Aber Miss Marmaduke ist nicht, was sie zu sein vorgibt. Möglicherweise ist dieses Abendessen eine Besprechung zwischen zwei Komplizen oder ein Schlagabtausch zwischen Rivalen. Allerdings war es schlau von ihm, offen über seinen Vorschlag zu sprechen, denn die meisten Leute würden ihn so verstehen wie du gerade eben.«
»Er ist wirklich ein schlauer Bursche«, stimmte Emerson zu. »Aber vermutlich kein Verbrechergehirn. Möglicherweise bilden wir uns nur ein, daß wir von Feinden umgeben sind, Peabody. Und da wir das Grab jetzt gefunden haben, wird vielleicht sogar Riccetti aufgeben.«
»Willst du damit sagen, wir sollten Evelyn und Walter nichts von den Übergriffen auf uns erzählen? Den geheimnisvollen Ereignissen, den …«
»Ja, verdammt, genau das will ich sagen. Warum sie unnötig ängstigen?«
Er nahm meinen nackten Fuß in seine große, gebräunte Hand und sah mich lächelnd an.
»Wenn ich es für überflüssig gehalten hätte, würde ich Evelyn nichts verraten haben«, sagte ich.
Emerson ließ meinen Fuß fallen und stand auf. »Das hätte ich mir denken können. Du bist mir wie immer einen Schritt voraus, und wahrscheinlich hat Ramses auch schon geplaudert. Manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, das angesehene Oberhaupt einer ganz normalen englischen Familie zu sein.«
»Sehr langweilig, Emerson.«
Seine finstere Miene verwandelte sich langsam in ein Grinsen. »Du hast recht. Komm herunter in den Salon, wenn du dich umgezogen hast. Ich gieße schon einmal den Whiskey ein.«
Walter, Emerson und ich tranken unseren Whiskey, und natürlich forderte Ramses auch ein Glas: »Nach den Gesetzen des Islam, des Judentums und einiger nubischer Stämme bin ich schon fast ein Mann, Vater.« Allerdings geschah dies mehr oder weniger aus Gewohnheit, denn er ging nicht davon aus, daß seine Bitte diesmal ausnahmsweise erfüllt werden würde. Es war dunkel geworden; am schwarzen Firmament funkelten die Sterne, das Wasser plätscherte sanft, und die Luft roch nach den geheimnisvollen Düften Ägyptens.
Allmählich bereute ich, Evelyn so rasch ins Vertrauen gezogen zu haben. An diesem Abend sah sie mit ihrem offenen, nur von einem Schal bedeckten Haar so zart aus wie ein junges Mädchen. Walter wirkte ziemlich mitgenommen: Sein Gesicht war von
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