Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
wollte unbedingt verhindern, daß Nefret irgendwelche Flausen entwickelte.
Der Junge war sichtlich erleichtert. »Sie sind mir deshalb also nicht böse?«
»Ganz im Gegenteil.« Ich setzte mich neben ihn auf den Boden. »Ein Talent wie deines zu nutzen ist eine Pflicht und ein gottgegebenes Recht. Nur ein Banause würde versuchen, dich daran zu …« Als ich seinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah, hielt ich inne. »Ich bin nicht böse, sondern erfreut. Nur eine Frage – warum hast du ihr die Geierkrone gegeben?«
Das hatte er zwar verstanden, aber er blickte noch immer verwirrt drein. »Ich weiß nicht. Es war …« Seine magere Hand beschrieb eine Geste. »Es war richtig so.«
Ein Künstler mit besserer Ausdrucksfähigkeit und stärker entwickeltem Selbstbewußtsein hätte es vielleicht eleganter formuliert. Aber ich wußte, was er meinte.
»Ich arbeite sehr viel.« Aus einem anderen Korb holte er ein Notizbuch und einen Bleistift. »Ich lerne. Soll ich Ihnen etwas vorlesen?«
Das tat er. Auf der Seite des Notizbuches erkannte ich Nefrets ordentliche Druckschrift. Es waren nur wenige Sätze in einfachen Worten, doch Nefret hatte sie zu einer kleinen Geschichte über einen Jungen verarbeitet, der in Ägypten wohnt, wo hell die Sonne scheint und ein breiter Fluß fließt.
»Sehr gut«, sagte ich. Allmählich kam ich mir vor wie eine Entenmutter, deren häßlicher Nachwuchs auf einmal eine unerwartete und für sie völlig unbegreifliche Entwicklung vollzogen hatte. Womit würde der Junge sich als nächstes beschäftigen? Dem Logarithmus?
Ich stand auf. »Ich muß wieder an die Arbeit, David. Und ich bin sehr zufrieden mit dir. Aber vernachlässige – verstehst du dieses Wort? – Nefrets Porträt nicht wegen deiner Sprachstudien. Es ist … wirklich bemerkenswert.«
»Ich werde mir Mühe geben, Sitt Hakim. Es ist für Sie.«
Beim Weggehen hörte ich ihn immer wieder »be-merkens-wert« wiederholen, wobei er versuchte, meinen Tonfall nachzuahmen.
Ich beschloß zu warten, bis die Skulptur fertig war, ehe ich sie Emerson zeigte. Bestimmt würde er ebenso gerührt und beeindruckt vom Talent des Knaben sein wie ich. Allerdings waren Emersons Vorurteile tief verwurzelt. Es würde eine Menge Arbeit kosten, ihn von Davids Vertrauenswürdigkeit zu überzeugen.
Wieviel, sollten wir bald herausfinden.
Als die Treppe endlich stand, war es fast Mittag. Zwar veranstalten Männer immer ein unnötiges Theater, wenn es um Handwerkerarbeiten jeder Art geht – vermutlich, um Frauen diese »männlichen« Betätigungen als schwieriger darzustellen, als sie in Wirklichkeit sind –, doch das Anbringen der Treppe war wirklich kein Kinderspiel. Um sie sicher am Felsen zu befestigen, brauchte man dicke Stahlschrauben und eine Reihe von Stützen. Dann mußte Mohammed noch eine Reihe letzter Angleichungen vornehmen. Nachdem Emerson die Treppe einige Male hinauf und hinunter getrampelt war, um sich ihrer Stabilität zu vergewissern, hatte ich die Ehre, sie als erste benützen zu dürfen.
Da der Gang nun bis zum Boden hinunter freigelegt worden war, machten wir uns an die Arbeit in der vorderen Kammer. Das Photographieren nahm viel Zeit in Anspruch, weil Emerson Aufnahmen aus jedem erdenklichen Winkel und aus verschiedenen Entfernungen haben wollte. Als Lichtquellen benutzte er Reflektoren – große Blechplatten, die so angebracht wurden, daß sie das Sonnenlicht direkt auf das Motiv lenkten. Diese Methode hatte sich als erstaunlich wirksam erwiesen. Sir Edward hatte die Platten jeden Abend entwickelt, und die Ergebnisse waren besser als erhofft.
Im Laufe des Nachmittags wurde meine Ungeduld angesichts dieser zwar notwendigen, aber eintönigen Aufgaben zusehends größer. Ich brannte darauf, die tatsächliche Ausgrabung in Angriff zu nehmen und die beeindruckenden Malereien freizulegen: Tetischeri, wie sie den Göttern der Unterwelt ihre Aufwartung macht, Opfergaben entgegennimmt, mit ihrem verstorbenen Gatten und ihrem treuen Enkel auf dem Thron sitzt. Ich wollte wissen, ob es sich bei dem Tier unter ihrem Stuhl um eine Katze oder einen Hund handelte, sehnte mich danach, den interessanten Schutt nach Splittern von Särgen und Überresten der dazugehörigen Verblichenen zu durchwühlen. Ramses, dem es genauso ging, konnte der Versuchung nicht widerstehen und griff nach einem braunen, ausgedörrten Gegenstand, der aus der Masse herausragte. Aber auf den Warnruf seines wachsamen Vaters hin fuhr er zusammen und zog seine
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