Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
hatte bringen lassen. »Jetzt wissen wir, warum die Katzen sich geweigert haben, das Grab zu betreten«, stellte er fest. »Ihr Geruchssinn ist viel besser ausgebildet als unserer, weshalb sie den scheußlichen Gestank wahrscheinlich bemerkt haben.«
»Mir dir geht wieder einmal die Phantasie durch, Ramses«, widersprach ich. »Eine Katze hat mit Sicherheit andere Vorstellungen von einem scheußlichen Gestank als wir. Allerdings haben wir es der Mumie zu verdanken, daß die Diebe nicht in die Grabkammer eingedrungen sind.«
»Dessen bin ich mir nicht so sicher!« rief Walter aus.
»Radcliffe, erinnerst du dich noch an die Geschichte, die wir vor einigen Jahren in Gurneh gehört haben? Über das verlorene Grab, in dem drei Männer auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind?«
»Legenden«, meinte Emerson ungeduldig.
»Doch dieser Vorfall hat sich in jüngster Zeit abgespielt«, beharrte Walter. »Der Mann, der sie uns erzählt hat, behauptete, der Bruder eines der Verschollenen zu sein.«
»Ganz bestimmt eine Legende«, sagte Ramses nachdenklich. »Aber es wäre doch interessant, wenn einige der zermalmten Knochen auf dem Boden der vorderen Kammer aus der Neuzeit stammten.«
»Mumpitz«, wandte Emerson ein. »Vielleicht hat der Anblick des widerwärtigen Dings sie zuerst in die Flucht geschlagen – doch andererseits sind Grabräuber an widerwärtige Dinge gewöhnt.«
»Eine derart grausige Mumie habe ich noch nie gesehen«, murmelte ich.
Fürsorglich goß Emerson noch etwas Whiskey in mein Glas.
»Ich schon. Sie stammte aus dem Versteck der Königsmumien in Deir el Bahri.«
»Emerson, der arme Mensch wurde lebendig begraben!«
»Diesmal hast du mit deiner theatralischen Deutung vermutlich recht, Peabody. Die Mumie weist die gleichen Merkmale auf wie jene andere, die ich vor einigen Jahren unter die Lupe nehmen durfte. Sie sehen einander so ähnlich, daß ich mir das Ergebnis der Untersuchung denken kann. Doch eine solche war mir ja heute abend nicht vergönnt.«
Ich achtete nicht auf diesen Seitenhieb; er wollte mich nur necken.
»Ja, ich erinnere mich an die Mumie aus Deir el Bahri«, sagte Walter. »Ihre Hände und Füße waren ebenfalls gefesselt.«
»Und anstatt die Leiche zu mumifizieren, hatte man sie in eine Schafshaut eingenäht«, ergänzte Emerson. »Die inneren Organe waren noch intakt, und es gab keine Hinweise auf eine Einbalsamierung. Anscheinend ist das auch bei unserem Toten der Fall. Ich habe die Schafshaut neben der Leiche gefunden, und ich konnte keine Einschnitte sehen, durch die man normalerweise die Organe entfernte. Das in Todesqual verzerrte Gesicht sieht aus wie bei der Mumie in Deir el Bahri und ist mit Sicherheit ein Zeichen dafür, daß beide Männer eines … unangenehmen Todes starben.«
»Bestimmt hat er etwas Schreckliches verbrochen, um so bestraft zu werden«, sagte Nefret.
Ich fragte mich, ob ich mich jemals an diesen Gegensatz gewöhnen würde: Sie sah aus wie ein hübsches englisches Mädchen und sprach völlig gelassen über Dinge, bei deren bloßer Erwähnung die meisten ihrer Altersgenossinnen erschaudert oder gar in Ohnmacht gefallen wären.
»Ja«, bestätigte Emerson. »Die Hinrichtung – denn das muß es gewesen sein – war nicht nur außergewöhnlich grausam, der Mann wurde auch seines Namens und seiner Identität beraubt und in die Haut eines Tieres gehüllt, das als unrein galt. Trotzdem aber hat man seine Leiche nicht zerstört, sondern ihn in einem königlichen Grab beigesetzt. Ich muß gestehen, daß ich mir das nicht erklären kann.«
»Da hast du ja dein Verbrechen, Amelia«, sagte Walter. »Ich glaube, du hast in dieser Saison noch keinen Mord aufklären können. Warum benützt du deine detektivischen Talente nicht bei unserem armen Burschen?«
»Ich glaube, nicht einmal die Detektive aus Ramses’ Lieblingsromanen könnten dieses Rätsel lösen«, antwortete ich ebenso scherzhaft. »Wenn es so lange her …«
»Ha«, unterbrach Emerson. »Hast du nicht einmal selbst gesagt, daß es auf jedes Rätsel eine Antwort gibt? Und es käme nur darauf an, wieviel Zeit und Energie man in die Sache stecken wolle?«
»Ich habe ein bißchen aufgeschnitten«, gab ich zu. »Allerdings …«
»Ach, du hast schon eine Theorie?«
»Noch nicht. Wie sollte ich, solange die Hinweise so lückenhaft sind?« Emersons Lächeln wurde breiter. Da ich der Herausforderung in seinen spöttischen Augen nicht widerstehen konnte, fuhr ich fort: »Bevor du mich unterbrochen
Weitere Kostenlose Bücher