Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
…«
»Normalerweise habe ich nichts gegen deine selbstlosen Absichten einzuwenden«, erwiderte Emerson, der nun – wie ich zuvor – ebenfalls Englisch sprach. »Meinetwegen kannst du ihn verbinden und ihn nähen, solange du willst. Aber vorher müssen wir unbedingt herausfinden, warum er angegriffen wurde, und die nötigen Schritte unternehmen, damit ihm – oder uns – nicht ein weiteres Unglück zustößt. Also, David? Du hast meine Frage gehört.«
Beim letzten Satz war er wieder in Davids Muttersprache gefallen. Doch an den zusammengepreßten Lippen des Jungen erkannte ich, daß er zumindest einen Teil der vorangegangenen Worte verstanden haben mußte. Abdullah wußte genau, worum es ging.
Emerson wiederholte seine Frage nicht. Streng wie ein Richter stand er da. Dann erhob sich Ramses, und Davids Blick wandte sich ihm zu. Einen Moment lang hatte ich den unheimlichen Eindruck, meinen Sohn in einem Spiegel zu sehen, der ihn nicht so zeigte, wie er war, sondern mir verdeutlichen sollte, was Armut und Mißhandlung aus ihm hätten machen können. Seine Augen hatten dieselbe Farbe und Form wie Davids mit den gleichen dichten, dunklen Wimpern.
Keiner der beiden sagte ein Wort. Nach einer Weile kehrte Ramses wieder in die Kauerstellung zurück, und David blickte Emerson an.
»Nachdem Sie fort waren, hat Abd el Hamed versucht, mich zu schlagen«, murmelte er. »Doch ich habe ihm den Stock aus der Hand gestoßen und bin weggelaufen.«
»Er hat dich auch früher geschlagen«, stellte Emerson fest.
»Ja. Und ich bin schon öfter weggelaufen.«
»Aber du bist immer wieder zurückgekehrt«, sagte Emerson.
»Wohin hätte er sonst gehen sollen?« rief Nefret aus. »Kannst du nicht damit aufhören, Professor? Es ist doch offensichtlich, daß er …«
»Nein, mein Kind, es ist nicht offensichtlich«, lautete die freundliche, doch unnachgiebige Antwort. »Er hätte auch bei der Familie seiner Mutter Zuflucht suchen können. Richtig, Abdullah?«
Abdullah nickte. Seine Miene jedoch blieb finster. Nur ein Mensch, der ihn so gut kannte wie ich, konnte die Gefühle dahinter erahnen, derer er sich anscheinend schämte. Ich hatte Verständnis dafür, daß David, der seinen Vater nur über die Familie seiner Mutter hatte schimpfen hören, sich nicht an diese gewandt hatte. Aber in David war eine Verwandlung vorgegangen. Nefrets liebevolle Anteilnahme, Emersons Interesse und sein Hilfsangebot, selbst die grobe Rauferei mit Ramses – eine Mischung aus all dem hatte seine Entscheidung beeinflußt, vielleicht ohne daß er sich selbst dessen bewußt war.
»Hmpf«, brummte Emerson, der Abdullah ebenso gut kannte wie ich. »Also hast du beschlossen, mein Hilfsangebot anzunehmen. Warum hast du gewartet, bis es Nacht war?«
»Ich bin nicht gekommen, um Sie um Hilfe zu bitten«, erwiderte David hochmütig. »Ich habe über Ihre Worte nachgedacht – den ganzen Tag lang, während ich mich in den Hügeln versteckt hielt, habe ich überlegt und dann beschlossen, zu den Inglizi zu gehen und noch einmal mit ihnen zu sprechen. Denn vielleicht … Aber es wäre dumm gewesen, am Tag zu kommen. Ich wußte, daß Abd el Hamed nach mir suchen würde, um mich zu fangen und zurückzubringen. Allerdings ahnte ich nicht, daß er einen solchen Schritt …«
»Du weißt nicht, warum er dich lieber tot sehen will als dich aufgeben?«
»Nein. Möglicherweise war es auch gar nicht Abd el Hamed. Ich weiß nicht, wer es war oder warum …«
Seine Stimme klang belegt und wurde immer schwächer.
»Genug, Emerson«, sagte ich streng. »Ich werde jetzt seine Wunde nähen, und dann braucht er Ruhe. Halt ihn fest. Und du setz dich auf seine Füße, Ramses.«
Doch noch ehe Emersons große gebräunte Hände sich auf Davids knochige Schultern legen konnte, wurde er beiseite geschoben, und Abdullah nahm seinen Platz ein.
Da ich schon oft an Emerson geübt hatte, gelang mir die Naht recht gut. David gab keinen Laut von sich und regte sich nicht. In Gegenwart seines Großvaters hätte er wohl auch nicht geschrien, wenn ich ihm das Rein amputiert hätte. Allerdings war er ziemlich erschöpft, als ich meine Arbeit beendet hatte, und Abdullah stand der Schweiß auf der Stirn.
Es juckte mir in den Fingern, den Jungen mit Seife und Bürste zu bearbeiten, aber ich beschloß, ihn zu schonen, bis er sich erholt hatte. Ich verabreichte ihm ein paar Tropfen Laudanum (gegen die er sich vor Schwäche nicht zur Wehr setzen konnte), damit er auch wirklich schlief. Dann
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