Amelia Peabody 08: Der Ring der Pharaonin
die letzte Nacht denken. Wie sehr bedauere ich …«
»Um so mehr Grund, sich dem Sonnenschein und der frischen Luft auszusetzen«, entgegnete ich bestimmt, da ich keine Lust hatte, mir noch einmal ihre Entschuldigungen und Ausflüchte anzuhören. »Es tut Ihnen nicht gut, wenn Sie allein in Ihrem Zimmer grübeln. Nehmen Sie die Bücher doch mit hinaus auf Deck und bitten Sie Mahmud, Ihnen eine Kanne Tee zu machen.«
»Ja, das ist … das ist eine gute Idee.« Hilflos sah sie sich um. Ich auch. Sie hatte nicht gelesen: Die Bücher auf dem Tisch waren nicht aufgeschlagen, sondern zu einem ordentlichen Stapel geschichtet. Auf dem obersten lag eine feine Staubschicht, wie er sich in dieser Gegend rasch auf jeder ebenen Fläche bildet. Auch im Bett hatte sie nicht gelegen. Die Überdecke war glatt, die Kissen waren aufgeschüttelt.
»Hoffentlich glauben Sie jetzt nicht, daß ich meine Pflichten vernachlässige, Mrs. Emerson«, sagte Gertrude. »Ich habe mich erkundigt, ob ich etwas für Ramses tun kann, aber Nefret hat mich nicht in seine Kabine gelassen. Und als ich mich bei ihr erkundigte, ob sie nicht mit dem Unterricht fortfahren wolle, antwortete sie, sie sei beschäftigt.«
»Schon gut, Gertrude.« Ich fragte mich, was Nefret sonst noch gesagt haben mochte. »Es gehört nicht zu Ihren Aufgaben, sich als Krankenschwester zu betätigen, und außerdem haben wir zur Zeit andere Sorgen als Unterrichtsstunden.«
Trotzdem beschloß ich, Nefret besser aus Ramses’ Kabine zu holen. Solange sie ihm befahl zu schlafen, würde er nie ein Auge zutun. Meine Ahnung hatte mich nicht getrogen, und ich kam gerade zur rechten Zeit. Ramses widersetzte sich mit zusammengepreßten Lippen Nefrets Versuchen, ihn zu Bett zu bringen. Also brachte ich ihn zu Bett und schickte Nefret hinaus. Gertrude hatte meine Anweisung befolgt. Ein Buch in der Hand, den leeren Blick auf den Horizont gerichtet, saß sie auf dem Oberdeck. Also zogen wir uns in den Salon zurück.
Eigentlich hatte ich erwartet, daß Nefret sich über Ramses’ Starrsinn und seine Undankbarkeit beschweren würde, doch sie hatte etwas Ernsteres auf dem Herzen. »Ich wollte diese Frage nicht in Ramses’ Gegenwart stellen, Tante Amelia, da es ihn aufregen könnte. Aber möchtest du mir erzählen, was heute morgen im Haus von Davids Herrn vorgefallen ist?«
»Woher weißt du, daß wir dort waren?«
Ein beunruhigendes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ich kenne den Professor gut, Tante Amelia, und ich habe diesen Blick auch schon bei anderen Männern gesehen. Wie du schon sagtest, habe ich in diesen Dingen mehr Erfahrung als englische Mädchen.«
»Oh«, meinte ich. »Nun, Nefret, der Professor ist nicht wie andere Männer, sondern ihnen weit überlegen. Er würde nie … Er hat nicht … Ach, du meine Güte. Auch wenn ich dir erzähle, was vorgefallen ist, gibt es keinen Grund, warum ich es vor Ramses verheimlichen sollte; er regt sich nicht leicht auf.«
Nachdem ich geendet hatte, nickte sie nachdenklich. »Es könnte so gewesen sein. Als ich den Mann sah, stand er neben meinem Bett. Vielleicht hat mich ein leises Geräusch – ein Stolpern oder ein zu lautes Auftreten – geweckt. Er hat mich erst angefaßt, als ich geschrien habe. Darf ich die Statue der Tetischeri sehen, die ihr gefunden habt?«
Dieser plötzliche Themenwechsel machte mich für einen Moment sprachlos. »Ja, sicher. Aber möchtest du nicht lieber über … die andere Sache reden?«
»Warum? Wir kennen nur wenige Tatsachen, und diese kann man ganz verschieden deuten. Wenn du und der Professor glaubt, daß der alte Mann die Wahrheit gesagt hat …«
»In dieser Angelegenheit bestimmt«, murmelte ich. »Er schien sich wirklich zu fürchten – und das, wie ich dir versichern kann, mit gutem Grund. Was jedoch den Rest betrifft weiß ich nicht so recht.«
Also ging ich los, um Tetischeri zu holen, die Emerson in unserer Kabine deponiert hatte. Das Gespräch hatte mich davon überzeugt, daß Nefret keine geheimen Ängste vor mir verbarg. Ich bin eine gute Menschenkennerin und hatte sie eingehend beobachtet, als sie von ihrem unangenehmen Erlebnis erzählte. Sie war völlig ruhig geblieben, weder erbleicht noch errötet, und ihre Stimme hatte nicht gezittert. Ich glaube zwar ans Unterbewußte, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
Da ich selbst noch keine Gelegenheit gehabt hatte, mir die Statue aus der Nähe anzusehen, betrachteten wir sie gemeinsam und verglichen sie mit den Photographien der Figur,
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