Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
Morgenröte überstrahlte die östlichen Gebirgszüge, als wir am Kai von Luxor von Bord gingen. Wir waren nicht die einzigen Frühaufsteher. Die hell erleuchteten Fenster der Hotels deuteten darauf hin, daß die Touristen sich für den Tag rüsteten, und die dunklen Gestalten in ihren langen Galabiyas bevölkerten auf ihrem Weg zum Gebet oder zur Arbeit die Straße. Wir lagen gut in der Zeit, denn unser Ziel war nicht weit entfernt. »Wartet«, sagte Ramses plötzlich.
»Warum? Was ist denn?« schrie ich, zückte meinen Sonnenschirm und zog mißtrauische Blicke auf mich.
»Wir sollten warten, bis die Lichtverhältnisse besser sind, so daß wir sehen, wohin wir gehen«, führte Ramses aus. »Verflucht, das ist schon bei Tageslicht gefährlich genug.«
Nach weiteren zehn Minuten entschied Emerson, daß es hell genug war. Obgleich Luxor weniger als zwölftausend Einwohner zählte, hatte es acht oder neun Moscheen, von denen keine sonderlich alt oder architektonisch reizvoll war. Die Sheikh-el-Guibri-Moschee befand sich kaum einen Kilometer entfernt vom Flußufer. Sie lag an einer Straße, die man eher als holprigen, staubigen Weg bezeichnen konnte. Wir hatten sie noch nicht erreicht, als bereits der erste Aufruf zum Gebet durch die klare Morgenluft zu uns herüberscholl. Die Muezzins sind Individualisten, die den Augenblick des Sonnenaufgangs nach ihrem eigenen Ermessen festsetzen. Dieses frühe Gebet kam von einer der weiter südlich gelegenen Moscheen, doch Nefret beschleunigte ihre Schritte und wurde nur durch Emerson, der ihre Hand fest umschlossen hielt, daran gehindert, uns vorauszueilen. Wir hatten sie sicherheitshalber in unsere Mitte genommen mit Sir Edward und mir als Schlußlicht, ich bezweifelte jedoch, daß sie diesen Zustand lange würde ertragen wollen.
Die Moschee stand etwas abseits der Straße. Durch den geöffneten Eingangsflügel sahen wir in den Innenhof mit seinem Springbrunnen. Ein Nebengebäude mit einem Kuppeldach stellte vermutlich die Grabstätte des heiligen Mannes dar, nach dem die Moschee benannt war. Von dem Minarett vermischte sich die Stimme des Muezzins – tief und gezeichnet von seinem würdigen Alter – mit dem Chor.
Auf der Straße waren einige Leute zu Fuß, auf Eseln oder mit Lastkarren unterwegs. Eine Frau, die ein Bündel Bambus auf dem Kopf trug, warf uns im Vorübergehen einen verstohlenen Blick zu. Wir wirkten sicherlich verdächtig; nur wenige Touristen nahmen diesen Weg.
»Ich werde in den Innenhof gehen«, sagte Nefret mit leiser Stimme. »Sie würde mich nicht hier auf der Straße ansprechen.«
»Keine gute Idee«, erwiderte Ramses. »Im Inneren würde sie sich noch verdächtiger machen. In der Öffentlichkeit dürfen Frauen nicht beten. Ihr anderen geht weiter bis zur Grabstätte. Wir werden hier warten.«
»Wir? Verflucht, Ramses, du hast dich damit einverstanden erklärt …«
»Ich habe gelogen«, sagte Ramses kühl. »Wir können das Risiko nicht eingehen, da zu viele Leute unterwegs sind. Sie hat mich und David mit dir zusammen gesehen, und wenn ihre Absichten ehrlich sind, dann würde sie nicht erwarten, daß du allein kommst.«
Wir warteten eine weitere Viertelstunde, bis die letzten Gebetsrufe verhallt waren und die Sonne rotglühend im Osten aufging. Emerson wurde nervös. Wir gesellten uns zu den Kindern, die sich – was kaum erstaunlich war – stritten.
»Bist du sicher, daß wir hier richtig sind?« wollte Nefret wissen.
»Nein.« Unbehaglich blickte sich Ramses um. »Das Schreiben war unleserlich, und es gibt zwei Moscheen ähnlichen Namens. Ich hätte es mir noch einmal genauer angesehen, wenn die Katze nicht das Papier zerfetzt hätte.«
»Sie kommt nicht«, sagte Emerson. »Oder sie hatte überhaupt nicht vor zu kommen. Oder –«
»Oder Sir Edward hatte recht«, sagte ich mit einem Blick auf diesen Herrn, der darauf nicht reagierte. Genau wie Ramses beobachtete auch er die Passanten. »Das war eine Falle, die nicht funktioniert hat. Sie wagten es nicht, uns alle anzugreifen.«
Auf Nefrets Drängen hin besuchten wir auf unserem Rückweg zum Kai die andere Moschee – die Sheikh el Graib. Sie befand sich in einer belebteren Gegend unweit des Luxor-Tempels. Um diese Zeit wimmelte die Straße vor Menschen, doch die Moschee selbst war ein ruhiger Ort, da die Morgenandacht bereits vorüber war. Nefret hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß wir wenigstens einen Hinweis fänden; langsam schlenderte sie entlang der Gebäudemauern und
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