Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
erhalten. Auf der Stirn erkennt man das Herrschersymbol, die Uräusschlange, und am Kinn einen Bart. Die Arme sind über der Brust gekreuzt. Man darf annehmen, daß die Hände früher einmal die königlichen Zepter umschlossen, da noch immer drei Riemen der Peitsche erhalten sind, auch wenn der Griff und das andere Zepter nicht mehr …«
»Uräusschlange, Bart und Zepter«, wiederholte Emerson langsam.
»Ja, Vater.«
»Hmhm«, meinte Emerson.
»Ja, Vater«, sagte Ramses. Nach einem langen Augenblick fügte er hinzu: »Zweifellos wurde der ursprüngliche Sargdeckel Veränderungen unterzogen.«
»Ah«, sagte Emerson.
Dieses rätselhaften Austauschs langsam überdrüssig, fragte ich: »Gibt es denn nun eine Mumie in dem Sarkophag, oder weißt du das nicht?«
»Es gibt eine«, sagte Ramses. »Der Sarkophag wurde von Feuchtigkeit, von herabgestürzten Gesteinsbrocken und dem Einsturz seines Sockels in Mitleidenschaft gezogen. Der Sarg kippte und teilte sich der Länge nach, doch er enthält immer noch einen Großteil der Mumie, bis auf den Kopf, der vom Körper abgetrennt wurde und auf dem Boden liegt.«
Lia erschauerte in gespieltem Entsetzen. »Ist es sehr eklig?« fragte sie hoffnungsvoll.
»Das spielt doch keine Rolle«, erwiderte ihr Vater. »Keine Wandmalereien, sagst du? Schade. Aber wenn sich das Grab in dem von dir geschilderten Zustand befindet, wird Davis voller Begeisterung wochenlang beschäftigt sein.«
Ramses erwiderte nichts. Erneut brütete er über seinem Sandwich.
Emerson stieß eine Reihe übelster Flüche aus, und Nefret sagte einlenkend: »Wenigstens haben sie sich bereit erklärt, so lange nichts mehr zu unternehmen, bis der bestellte Fotograf eintrifft.«
»Habt ihr ihm denn nicht eure oder die Dienste von Sir Edward angeboten?« fragte Walter. »Bei Tetisheri hat er erstklassige Arbeit geleistet, und das war unter ähnlich schwierigen Bedingungen.« Sir Edward lächelte wehmütig. »Ich werde nie vergessen, wie ich jeden Tag über die Rampe zum Sarkophag hochgeklettert bin, auf meinem Rücken Kamera, Stativ und Filmplatten festgeschnallt. Der Professor drohte, mich umzubringen, falls ich hinunterfiele.«
»Und hätte es auch getan«, sagte Emerson.
»Dessen war ich mir vollauf bewußt, Sir. Das machte mich noch um einiges nervöser, als es normalerweise der Fall gewesen wäre.«
Emerson verzog sein Gesicht zu einer freundlichen Grimasse. »Sie haben hervorragende Arbeit geleistet«, gestand er. »Davis hat sein Angebot abgelehnt, Walter. Möchte verflucht noch mal wissen, warum. Er verabscheut es, auch nur einmal danke sagen zu müssen.« Er sprang auf. »Trotzdem kann er uns nicht davon abhalten, einen Blick zu riskieren. Auf einen Störenfried mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. Wer begleitet mich?«
Evelyn lehnte es ab, Störenfried zu sein, und schlug statt dessen vor, Lia die Monumentalgräber zu zeigen. Ich wußte, was sie dachte. Falls sie sich für eine Heimreise entschieden, dann hatte das Kind wenigstens die berühmtesten Grabstätten im Tal besichtigt. David erbot sich, sie zu begleiten, und ich gab ihnen zusätzlich Daoud mit auf den Weg.
Wir anderen erhielten die Gelegenheit zu einem Besuch in der Grabkammer des neu entdeckten Grabes, allerdings erst, nachdem alle Männer aus Davis’ Troß und drei oder vier Frauen unten gewesen und wieder zurückgekehrt waren. Es war ein gleichzeitig erstaunlicher und bedrückender Anblick – der zerstörte Sarkophag, die überall verstreuten Gegenstände und eine riesige vergoldete, an eine Wand gelehnte Platte. Große Teile des Verputzes waren von den Wänden abgeblättert oder würden es jeden Augenblick tun. Aufgrund von Feuchtigkeit oder anderen Ursachen waren in der Vergangenheit Schäden entstanden; doch jeder Luftzug, jede Erschütterung zerstörte die empfindlichen Gegenstände noch mehr. Als ich auf Händen und Knien durch den Türrahmen kroch, löste sich ein Teil der goldbedeckten Gipsmasse von der Schreinplatte und fiel auf den sich bereits am Boden ansammelnden Haufen.
Ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, noch weiter in die Grabkammer vorzudringen. Ich krabbelte zurück über die schmale Holzplanke und hielt nur so lange inne, bis ich einen weiteren Blick auf die vergoldete Platte geworfen hatte, die sich gefährlich nahe unter mir befand. Die Königin war darauf abgebildet, wie sie Aton, dem Sonnengott, Blumen opferte. Eine weitere Gestalt vor ihr war herausgeschnitten worden. Mit
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