Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
Ausgrabungen vorgenommen.
Sir Edward saß hoch zu Roß; da wir jedoch nicht genug Pferde für alle hatten, ritt ich auf einem Esel und konnte so gemütlich mit Evelyn plaudern – so gemütlich, wie es die Gangart eines Esels eben erlaubte. Sie selbst hatte sich einen Ruf als hervorragende Zeichnerin ägyptischer Darstellungen erworben; doch an diesem Tag wurde ihr archäologisches Interesse von liebevoller Fürsorge überlagert, die nicht nur ihrem Kind, sondern uns allen galt.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir anstellen soll, Amelia! Warum könnt ihr nicht eine einzige Ausgrabungssaison verleben, ohne euch mit irgendwelchen schrecklichen Verbrechern einzulassen?«
»Also, das ist sicherlich eine Übertreibung, Evelyn. Die Saison 1901/02 … Nein, da war die Sache mit dem Betrug im Kairoer Museum. Oder war das die Saison, als Ramses … Nun, ist ja auch egal.«
»Es wird zunehmend dramatischer, Amelia.« »Eigentlich nicht, meine Liebe. Im großen und ganzen ist es stets das gleiche. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Kinder immer aktiver werden.«
Ich war mir nie im klaren gewesen, was Evelyn über meine Begegnungen mit Sethos wußte oder vermutete. Da ich keinen Sinn darin sah, ihr Dinge vorzuenthalten, die den Kindern längst bekannt waren, erzählte ich ihr die ganze Geschichte. Im Laufe der Jahre hatte ich großen Respekt vor Evelyns Scharfsinn entwickelt. Sie war überrascht – ich dachte schon, sie fiele von ihrem Esel, als ich ihr die verführerische Garderobe beschrieb, die mich Sethos einst zu tragen gebeten hatte –, doch als ich geendet hatte, war ihre erste Äußerung pragmatisch und brachte die Sache auf den Punkt.
»Es scheint mir, Amelia, daß du voreilige Schlüsse ziehst, wenn du diese Person für deine gegenwärtigen Probleme verantwortlich machen willst. Du hast nicht einen einzigen stichhaltigen Beweis.«
»Eigentlich glaube ich auch gar nicht, daß er es ist«, sagte ich. »Emerson ist derjenige, der Sethos an jeder Ecke auf der Lauer liegen sieht. Ich denke … Aber wir sind fast da. Laß uns später darüber sprechen.«
Die Cook’s-Reisegruppe verließ gerade das Tal, und auf der Eselkoppel herrschte das Chaos. Wir ließen unsere Reittiere in der Obhut eines Aufsehers und schlenderten das kurze Stück zu unserem Grab.
Selim begrüßte uns als erster; er erklärte uns, daß Emerson und die Kinder bei Effendi Davis wären. Das hatte ich befürchtet. Walter war neugierig auf das neu entdeckte Grab, und ich war neugierig darauf, welches Unheil Emerson jetzt wieder angezettelt hatte.
Deshalb verweilten wir nur so lange an unserer Ausgrabungsstätte, bis wir Abdullah und die anderen begrüßt hatten. Zunächst war Daoud unauffindbar. Vermutlich hatte ihm jemand – höchstwahrscheinlich Selim – erklärt, daß Lias Eltern vielleicht etwas verärgert über ihn waren. Als er schließlich aus dem Grab hervorkroch, vermittelte er den Eindruck eines hünenhaften, überängstlichen Kindes. Walter schüttelte ihm die Hand, Evelyn dankte ihm, und Lia umarmte ihn stürmisch, woraufhin sich sein Gesicht aufhellte. Nachdem das erledigt war, wies ich Selim an, unseren Proviantkorb zu dem für unsere Mahlzeiten auserkorenen Grab zu bringen, und wir machten uns erneut auf den Weg.
Unsere Familie war dort und – meiner ersten Einschätzung nach zu urteilen – ebenfalls halb Luxor. Davis hatte sein übliches Gefolge mitgebracht. Ich winkte Mrs. Andrews, die auf einem Teppich saß und sich mit solcher Heftigkeit Luft zufächelte, daß die Federn auf ihrem Hut vibrierten, und ging dann geradewegs auf Emerson zu. Sein Gesichtsausdruck gefiel mir ganz und gar nicht. »Hallo, Peabody«, sagte er düster.
»Was ist denn los?« fragte ich.
»Katastrophe, Unheil und Zerstörung. Beinahe hätte es auch einen Toten gegeben«, fügte er hinzu, »wenn mich Nefret nicht von Weigall ferngehalten hätte. Du wirst es nicht glauben, Peabody –«
»Niemand zwingt dich hierzubleiben, wenn dich das Ganze so verärgert, Emerson. Was kannst du schon ausrichten?«
»Vermutlich einiges«, lautete die Antwort. »Jeder kennt meine Ansichten hinsichtlich der Ausgrabungsethik, und Weigall behauptet, sie zu teilen. Allein meine Anwesenheit könnte schon ernüchternde Wirkung haben.«
An diesem Punkt polterte Mr. Davis, gefolgt von mehreren anderen Männern, die Treppenstufen hinauf. Er machte mir nicht den Eindruck, als habe ihn Emersons Anwesenheit ernüchtert. Jubel und Erregung hatten seinem
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