Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
heute morgen noch nicht zu Gesicht bekommen.«
»Er ist in seinem Zimmer. Soll ich ihm ausrichten, daß er herunterkommen soll?«
»Richte ihm aus, daß ich mich freuen würde, wenn er mir Gesellschaft leistete«, korrigierte ich sie sanft.
Diese Worte leise vor sich hin murmelnd, verschwand sie. Welch ein Lerneifer! Ich war wirklich beschämt, daß ich ihrem Ehrgeiz nicht mehr Aufmerksamkeit gezollt hatte.
Sir Edward tauchte umgehend auf, lehnte eine Stärkung allerdings ab. »Ich habe vor, nach Luxor überzusetzen«, erklärte er. »Es sei denn, Sie oder der Professor brauchen mich.«
»Der Professor ist bereits auf dem Weg ins Tal. Und ich habe beschlossen, einen erholsamen Tag zu Hause einzulegen.«
»Das steht Ihnen sicherlich zu. Nun, dann sehe ich Sie heute abend, wenn’s recht ist.«
Er schien in ziemlicher Eile zu sein. Nein, dachte ich bei mir, dafür ist sicherlich nicht Mr. Paul verantwortlich.
Die Familie kehrte früher als erwartet zurück und brachte Abdullah und Selim mit.
»Nun, habt ihr erreicht, was ihr erreichen wolltet?« fragte ich.
»Ja.« Emerson wirkte überaus nervös. »Das meiste jedenfalls. Warum trägst du dieses Kleid, Peabody? Ich nehme nicht an, daß du ausgerechnet für mich deine beste Garderobe angelegt hast.«
»Ich bin zum Tee eingeladen«, erwiderte ich und nickte Fatima zu, die wie üblich ihre kalten Platten auftrug. »Heute morgen erhielt ich eine Einladung von Fatimas Lehrerin.«
»Bei diesem Wetter?« Emerson nahm sich einen Keks.
»Es regnet doch gar nicht.«
»Es wird Regen geben«, erklärte Abdullah. »Aber erst heute nacht.«
»Siehst du? Ich wollte die Dame schon seit einiger Zeit einmal treffen und war stets verhindert. Sie hat Miss Buchanan und Miss Whiteside ebenfalls eingeladen, von daher wird es sicherlich eine interessante Zusammenkunft.«
»Hmhm«, sagte Emerson mit einem Griff an sein Grübchen. »In Ordnung, Peabody. Ramses und ich müssen der Polizei noch eine offizielle Erklärung abgeben. Lassen wir es hinter uns bringen.«
Also machten wir uns alle auf den Weg, einschließlich Abdullah und Selim. Glücklicherweise waren wir alle seetauglich. Der Fluß war ziemlich unruhig, und das Boot schaukelte erheblich. Ich mußte meinen Hut mit einem langen Schal festbinden. Nefret konnte sich zunächst nicht entscheiden, ob sie mich begleiten oder mit den anderen gehen sollte. Ihr detektivischer Spürsinn siegte. Ich ließ sie kommentarlos ziehen, da mir klar war, daß Emerson – ganz zu schweigen von Ramses und David – niemals zulassen würde, daß sie den Leichnam obduzierte.
Aufgrund des stürmischen Wetters und meines Hutes entschied ich mich am Kai für eine Droschke. Emerson half mir höflich hinein und kletterte dann neben mich.
»Was soll das denn?« wollte ich wissen. »Hast du mir irgend etwas verheimlicht, Emerson?«
»Ich habe dir nichts verheimlicht, meine Liebe«, sagte Emerson und winkte dem Kutscher zum Aufbruch. »Hast du mir etwas vorenthalten?«
»Oh, um Himmels willen, Emerson, geht es schon wieder um Sethos? Du nimmst doch hoffentlich nicht an, daß ich in geheimer Verbindung mit ihm stehe.«
»Ich würde es nicht für unmöglich halten.« Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, nahm er rasch meine Hand und drückte sie. »Das war nur ein kleiner Scherz, mein Schatz. Ich würde niemals an deiner Liebe zu mir zweifeln, manchmal jedoch an deinem gesunden Menschenverstand. Du besitzt ein so verfluchtes Selbstvertrauen! Wenn Sethos dich zu einem Rendezvous bäte, würden dich deine Neugier und dein Vertrauen in die sogenannte Loyalität dieses Mannes zu einer Reaktion verleiten. Gib es zu.«
»Nie wieder«, sagte ich feierlich. »Meine Verschwiegenheit hat mir schon genug Probleme eingebracht. Von jetzt an, mein geliebter Emerson, werde ich dir alles erzählen. Den Kindern natürlich auch.«
Emerson führte meine Hand an seine Lippen. »Ich glaube nicht, daß ich so weit gehen würde«, sagte er mit einem Zwinkern in den Augenwinkeln.
Die Schule schien an diesem Tag geschlossen zu sein, aber das anheimelnde Licht der erleuchteten Fenster erhellte den dämmrigen Nachmittag. Die Straßen waren praktisch menschenleer; die langen Umhänge der vereinzelten männlichen und weiblichen Passanten waren wie Segel aufgebläht. Ein Gast war zumindest schon vor mir eingetroffen; eine geschlossene Kutsche stand vor dem Portal. Ich wünschte, wir hätten statt unseres offenen Landauers eine ebensolche genommen, denn die Luft war
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