Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
sie nicht gesucht hätten. Natürlich erkannte sie keiner von ihnen, da sie sie nie zuvor gesehen hatten, und zu diesem Zeitpunkt bestand für Sie überhaupt kein Anlaß, Madame Haschim zu verdächtigen.«
»Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich auch? Es gibt viele Frauen wie sie, die ohne jede Anerkennung und Unterstützung voller Eifer das Licht des Lernens entfachen …«
»Exakt«, ergriff Sir Edward wieder das Wort. »Ich hoffe, daß es Sie trösten wird, Mrs. Emerson, wenn ich Ihnen sage, daß mein Chef und ich Madame Berthas abseitige Aktivitäten ebenfalls nicht durchschauten. Er vertraute ihr, verstehen Sie. Sie traute ihm nicht. O ja, sie liebte ihn wie eine Tigerin – das war auch der Grund, weshalb sie Sie haßte –, aber zweifellos hatten sie frühere Erfahrungen gelehrt, Männern nicht bedingungslos zu vertrauen. Vor mehreren Jahren schon gründete sie ohne sein oder mein Wissen eine eigene kriminelle Organisation. Innerhalb der wachsenden Bewegung der Frauenrechtlerinnen in England und Ägypten fand sie wissentlich oder unwissentlich Verbündete. Die Schule hier in Luxor war eine der Aktivitäten, die sie zu dieser Zeit in Angriff nahm.«
»Ich hätte es wissen sollen«, sagte ich wütend. »Sie nutzte die Frauenbewegung in England genauso zynisch und schamlos aus, wie es für ihre Zwecke von Vorteil war.«
»Sie verstehen sie nicht, Mrs. Emerson. In der ihr eigenen verschrobenen Denkweise fühlt sie sich der Sache der Frauen tatsächlich verpflichtet. Sie haßt Männer und glaubt, daß sie die Frauen in ihrem Kampf gegen die männliche Unterdrückung unterstützt. Mein Meister, wie Sie ihn zu nennen pflegen, war die einzige Ausnahme; aber jetzt glaubt sie, daß er sie genau wie all die anderen betrogen hat.«
Die Haarnadeln verbogen sich ständig. Mittlerweile hatte ich vier Exemplare ohne nennenswertes Ergebnis eingesetzt. Mein Interesse an seiner Schilderung lenkte mich vielleicht zu sehr ab. »Dann war das ermordete Mädchen also eine ihrer Schülerinnen?«
»Ich glaube, das war der Fall. Ich weiß nicht, ob es Miss Nefrets Überzeugungskraft oder das Angebot Ihres Sohnes hinsichtlich einer Belohnung war, was sie ins Wanken brachte, aber sie war bereit, ihre Herrin zu hintergehen.« Sir Edward veränderte seine Sitzhaltung leicht, ich vermutete, daß er den Schmerz in seiner Schulter zu lindern versuchte. »Wie kommen Sie voran?« erkundigte er sich höflich.
Ich warf eine weitere verbogene Haarnadel beiseite und streckte meine verkrampften Finger aus. »Ich habe noch jede Menge Haarnadeln.«
Sir Edward warf seinen Kopf zurück und lachte schallend. Es klang merkwürdig in diesem verlassenen Raum. »Sie verschwenden Ihre Zeit und strapazieren Ihre Handgelenke nur unnötig, Mrs. Emerson. Ich bin übrigens sicher, daß Madame immer noch in Luxor weilt. Falls sie den nützlichen Deckmantel einer Lehrerin wahren will, wird sie Ihre liebende Familie davon überzeugen müssen, daß Sie die Schule aus freien Stücken verlassen haben, und – wie ich den Professor kenne – sie das ganze Haus auf den Kopf stellen lassen. Vor einer Weile hat es angefangen zu regnen, und sie wird sich ihre hübschen Füße nicht schmutzig machen wollen. Ich bezweifle, daß sie hier erscheint, bevor …«
»Was!« rief ich. »Was haben Sie gesagt? Noch in Luxor? Lehrerin? Hübsche Füße? Sie sprechen von Bertha und nicht von Matilda. Aber Bertha ist tot. Sie … O gütiger Himmel!«
»Verzeihen Sie, daß ich nicht eindeutig genug war«, sagte Sir Edward überhöflich. »Ich dachte, Sie hätten verstanden. Aber, Mrs. Emerson, Ihr normalerweise scharfer Verstand scheint unter der gegenwärtigen Anspannung gelitten zu haben. Nein, Madame ist keineswegs tot; sie lebt und brennt darauf, Sie zu sehen. Ich habe nicht nur erst kürzlich mit ihr gesprochen, sondern war auch derjenige, der den Leichnam untersuchte und feststellte, daß es sich nicht um ihre Leiche handeln konnte.«
»Wie ist Ihnen das denn gelungen? Oder sollte ich besser nicht fragen?«
»Sie überraschen mich, Mrs. Emerson! Sie erinnern sich vielleicht, daß Bertha eine sehr helle Haut besitzt. Jeder Quadratzentimeter ihres Körpers war verhüllt, mit Ausnahme des Kopfes, von dem nicht mehr viel übrig war, aber wenn Ihr Gatte ihr einen ihrer Handschuhe ausgezogen hätte …«
»Großer Gott!« entfuhr es mir. »Sie hat vorsätzlich eine dieser armen Frauen getötet, um uns in die Irre zu führen. Diese kaltblütige, skrupellose –«
»Eine
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