Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
meine …« Ich konnte ihn nicht anschauen. Sein hämisches Grinsen ging mir durch Mark und Bein. Ich raffte meine Bluse zusammen. »Ich werde mich umziehen. Bleibst du hier? Oder willst du noch weg?«
»Ich bleibe hier.« Er schlenderte zum Fenster und wandte mir den Kücken zu.
Du weißt, wie Dich Deine Augen gelegentlich täuschen können – wie Formen und Schatten eine gewisse Gestalt annehmen und dann miteinander verschmelzen? So war es eigentlich nicht; physisch hatte er sich nicht verändert, er war derselbe wie immer. Ich kannte jede Bewegung seiner schlaksigen Gestalt, jede Locke seines zerzausten schwarzen Haars. Trotzdem hatte ich ihn noch nie gesehen. Du weißt, was ich damit sagen will, nicht wahr? Die Veränderung liegt im Herzen.
Ich muß irgendein Geräusch von mir gegeben haben – ein Seufzen, einen lauten Atemzug. Er wirbelte herum, und da war es wieder. Die mir vertrauten Gesichtszüge waren dieselben, aber jetzt sah ich die Zärtlichkeit, die er mit seinem albernen Grinsen zu verbergen versuchte, seine markanten Schläfen und Wangenknochen, und seine Augen – weit geöffnet, aufrichtig und ohne das übliche Mißtrauen.
Einige Sekunden lang verharrte er reglos und beobachtete mich. Dann streckte er seine Hand aus. »Komm zu mir«, sagte er.
Ich konnte mich nicht bewegen. Ich hatte das Gefühl, auf dem Kopf zu stehen und nicht auf meinen Füßen. Mir war schwindlig.
»Weißt du, es ist zu spät«, murmelte er. »Zu spät für mich, was auch immer du vorhast. Kannst du mir nicht wenigstens etwas entgegenkommen?«
Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit zwischen dieser herzzerreißenden Frage und dem Augenblick verstrich, als er mich an sich drückte und seine Lippen meinen Mund suchten.
Wieso war mir das nicht klar gewesen? Wie hatte ich nur so dumm sein können? Warum hatte mich niemand aufgeklärt? Er lachte mich aus, als ich mich diesbezüglich äußerte. Ich liebe sein Lachen, Lia. Sein Gesicht verändert sich völlig, seine Augen strahlen, und sein Mund wird weich und … Du siehst, ich bin mit Haut und Haaren verliebt!
Erst als Fatima an die Tür klopfte und fragte, wann sie das Abendessen auftragen solle, begriff ich, wieviel Zeit verstrichen war. Wir saßen im Dunkeln. Er küßte mich erneut und schob mich dann sanft von sich.
»Ich werde ihr sagen, in zehn Minuten. Ist das lange genug?«
»Ja. Nein. Sag ihr … Sag ihr, daß wir kein Abendessen wollen. Sag ihr, sie soll verschwinden.«
An dieser Stelle habe ich meinen Brief unterbrochen, weil Narmer bellte und ich hoffte … Aber er war es nicht. In diesem Zimmer halte ich es nicht länger aus; ich werde an der Eingangstür nach ihm Ausschau halten. Dann sind der Weg und die Zeit bis zu unserem Wiedersehen etwas kürzer … ich stecke den Brief in einen Umschlag und lege ihn zu der anderen Post auf dem Tisch.
Ich hoffe, Du denkst jetzt nicht, daß ich an dieser interessanten Stelle abbrach, um literarische Spannung aufzubauen oder weil ich mich schämte, das Vorgefallene zuzugeben. Ich schäme mich keineswegs. Ich wußte ja gar nicht, daß ein solches Glück möglich ist! Wenn Ihr nicht das nächste Schiff nehmt, werdet Ihr die Hochzeit versäumen; selbst für Euch, meine liebsten Freunde, werde ich keinen Tag länger warten! Nicht, daß mich gesellschaftliche Konventionen kümmerten – aber der Professor wäre außer sich, und Tante Amelia würde uns einen Vortrag halten – sie verstehen das nicht, da sie in einer völlig anderen Welt leben –, und mein armer Schatz hat einen so gewaltigen Respekt vor ihnen, daß er sich vielleicht sogar in seinem Zimmer einschließen würde und die Tür nicht mehr zu öffnen wagte. Dann müßte ich durch sein Fenster klettern! Das würde ich auch machen, um bei ihm zu sein! Gott sei Dank hat Ibrahim die Fensterverkleidungen mit Angeln versehen!
Was gestern abend geschah, dafür kann er nichts, das lag ausschließlich an mir … fast ausschließlich … Wenn ich nur daran denke, könnte ich vor Sehnsucht dahinschmelzen. Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich ihn so sehr liebe, Lia. Nach außen hin gibt er vor, den männlichen Ehrenkodex seiner Gesellschaftsschicht zu verachten, trotzdem verkörpert er alles, was diese Gentlemen von sich behaupten und selten beweisen – Höflichkeit, Stärke, Tapferkeit und Ehrlichkeit.
Aus Manuskript H
Ramses mußte Ali nicht fragen, wer der Besucher war. Das Pferd war schweißüberströmt, und man sah das Weiße in seinen Augäpfeln. Percys
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