Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
dem Buch nicht um einen Schundroman, sondern um den ersten Band von Emersons Geschichte handelte. Der Salon wirkte gepflegter als bei meinem ersten Besuch, Staubschicht und Alkoholdunst hatten sich erheblich reduziert.
Sofern Jack unseren Besuch störend fand, ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken, statt dessen bot er uns mit perfekter Höflichkeit Sitzgelegenheiten und Erfrischungen an, lehnte letzteres für seine Person jedoch ab.
»Wir machten einen Spaziergang und beschlossen, kurz vorbeizuschauen«, erklärte ich.
Schon die wenigen Tage ohne die zerstörerischen Begleiterscheinungen des Alkohols hatten das gesunde und intelligente Aussehen des jungen Mannes wiederhergestellt. »Sie kamen vorbei, um nachzuschauen, ob ich wieder an der Flasche hinge«, erwiderte er unverblümt. »Ich habe diesen Verzicht akzeptiert, und Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich diesem Laster erneut verfalle. Wie Sie selbst betonten, habe ich Pflichten zu erfüllen.« Er schob sein Kinn vor und entblößte seine Zähne; er erschien mir wie Mr. Roosevelt vor der Schlacht.
»Freut mich, das zu hören«, entgegnete ich und hoffte, daß seine Äußerung der Wahrheit entsprach. »Dann möchten wir Sie nicht länger stören. Ist Geoffrey hier?«
»Ich brauche kein Kindermädchen mehr, Mrs. Emerson.«
»Sie haben mich falsch verstanden, Mr. Reynolds. Ich habe mich nach Geoffrey erkundigt, wie ich das bei allen meinen Freunden tun würde.«
»Schon gut, er ist nicht hier. Er brach gestern auf – ich weiß nicht, wohin. Er hinterließ eine Nachricht mit der Mitteilung, daß er einige Tage unterwegs sei. Ich war nicht zu Hause.«
»Verstehe. Dann also gute Nacht.«
Er bestand darauf, uns zur Tür zu begleiten, und als ich ihm zum Abschied meine Hand reichte, hielt er sie fest. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir, Mrs. Emerson, wenn ich unbeherrscht war. Für Ihre Hilfe werde ich Ihnen immer dankbar sein.«
»Was sollte das Ganze?« fragte Katherine auf dem Heimweg neugierig. »Ich fand sein Verhalten überaus sonderbar, Amelia.«
»Männer sind überaus sonderbare Wesen, Katherine. Ich weiß nicht genau, was in ihm vorgeht. Ich dachte, ich hätte gewisse Ressentiments gegenüber Geoffrey festgestellt, aber ich könnte nicht sagen, ob Jack wütend war, weil sein Freund ihn verlassen oder weil er ihm überhaupt geholfen hat! Diese bedauernswerten Geschöpfe geben nur ungern zu, daß sie auf die Unterstützung anderer angewiesen sind. Ich muß gestehen, daß meine Besorgnis um Jack nicht der vorrangige Grund für diesen Besuch war.«
»Sie dachten, Nefret könnte zu ihm gegangen sein?«
»Eher zu Geoffrey. Sie versteht sich besser mit einigen der jungen Männer als mit den jungen Damen der Kairoer Gesellschaft, was wenig verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß letztere hoffnungslose Hohlköpfe sind. Sicherlich ist es kein Zufall, daß Geoffrey ebenfalls verschwand und lediglich eine nichtssagende Notiz zurückließ. Wenn sie verzweifelt war, und das traf mit Sicherheit zu, hätte er ihr seine Hilfe angeboten und sie – nun ja – nicht im Stich gelassen. Und im Hinblick auf Jack hätte er ihr Vertrauen nie mißbraucht. Ja, so muß es gewesen sein. Ich gestehe, es erleichtert mich, zu wissen, daß sie nicht allein ist.«
»Er gehört vermutlich nicht zu den Männern, die ihren Vorteil suchen?«
»Bei Nefret?« Ich mußte lachen. »Er ist der perfekte Gentleman, und Nefret beileibe keine Frau, die man leicht übervorteilen kann. Verlassen Sie sich darauf, wir werden bald von ihr hören.«
Bereits am folgenden Abend hörten wir von ihr. Der Brief war handschriftlich abgefaßt und per Boten abgegeben worden. »Ich hoffe, ihr habt euch um mich keine Sorgen gemacht. Geoffrey und ich sind in wenigen Tagen zurück. Wir haben heute morgen geheiratet.«
10. Kapitel
Ach, diese herrlich klaren Wüstennächte! Wie oft habe ich nicht schon, nur in eine Decke gehüllt, den Sternenhimmel betrachtet und an Ihn, ihren Schöpfer, gedacht. Einem Mann, dessen Gedanken und Taten nicht von solcher Erfahrung beflügelt werden, ist nicht mehr zu helfen.
Aus Manuskript H
Die Landungsbrücke zur Amelia war ausgelegt, und David stand pfeiferauchend an Deck. Sein schmales braunes Gesicht hellte sich auf, als er Ramses bemerkte, und er eilte schnellen Schrittes auf ihn zu.
»Ich hatte wirklich gehofft, wir würden dich heute nachmittag sehen«, rief er. »Du warst heute morgen nicht am Bahnhof.«
»Das tut mir aufrichtig leid, aber ich mußte noch
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