Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
du die Oberfläche eines der ursprünglichen Steinquader, die den Stollen auskleideten. Es kann sich nur um wenige Schichten handeln; wir haben bereits zwei Meter bewältigt, und ich rechne damit, daß wir in weniger als fünf Metern Tiefe auf die letzten Felsquader stoßen werden.«
»Wir brauchen Seile«, wandte Selim ein. »Um das Gestein nach oben transportieren zu können.«
»Ich möchte auch, daß die Männer angeseilt werden«, erwiderte Emerson. »Und nie mehr als drei werden gleichzeitig in die Tiefe gelassen, Selim. Zwei Männer halten jeweils ein Seil, und richte ihnen aus, daß ich ihnen beide Arme brechen werde, falls sie loslassen.«
Wenn ich Emerson nicht überzeugt hätte, daß er seine Kraft und Kompetenz an anderer Stelle sinnvoller einsetzen könnte, wäre er einer der drei Männer in der Grube gewesen. Langsam und vorsichtig wurde mit der Arbeit begonnen. Die Felsquader waren nicht so gewaltig wie die in Gizeh, trotzdem wog jeder einzelne mehrere hundert Pfund, und die Männer brauchten lange, bis sie sie so weit angehoben hatten, daß sie ein Seil darunter anbringen konnten. Emerson befahl die Männer nach oben, bevor der Steinbrocken hochgehievt wurde, und entfernte sich vom Rand der Grube.
»Das wird vermutlich den ganzen Tag in Anspruch nehmen«, bemerkte ich, während ich in die Tiefe spähte.
»Falls erforderlich, sogar eine Woche«, erwiderte Emerson und wischte mit seinem Ärmel über seine schweißnasse Stirn.
»Selbstverständlich. Da die Sache nicht eilt, könnten wir eigentlich das Mittagessen einnehmen, oder?«
Zähneknirschend erklärte sich Emerson einverstanden, und wir zogen uns zu unserem schattigen Plätzchen zurück, während die Arbeiter rauchten und sich ausruhten. Kurz darauf bemerkte ich in nördlicher Richtung einen Reiter und machte die anderen auf ihn aufmerksam. Keiner reagierte; abgesehen von der Tatsache, daß ein Attentäter sich beileibe nicht so auffällig genähert hätte, hätte man die schlanke, elegante Erscheinung des Reiters kaum für den stämmigen Amerikaner halten können. Es war Geoffrey, den Emerson nach Gizeh geschickt hatte, damit er feststellte, ob Jack zur Arbeit erschienen war.
»Er ist nicht da!« lauteten die ersten Worte des jungen Mannes, als er auf uns zueilte. »Er ist am Vormittag nicht aufgetaucht, und zu Hause ist er auch nicht. Dort war ich ebenfalls.«
»Hmhm«, brummte Emerson und kaute dann weiter. Ich sagte: »Setz dich, Geoffrey, und trink ein Glas Tee. Du wirkst sehr überhitzt.«
Lächelnd und kopfschüttelnd küßte Geoffrey seine Ehefrau und sank ihr zu Füßen. »Diese Gelassenheit erstaunt mich, Mrs. – Tante Amelia –, obgleich ich mich mittlerweile daran gewöhnt haben sollte.«
»Wir demonstrieren lediglich die Eigenschaften, für die unsere hochstehende Rasse berühmt ist«, meinte Ramses gedehnt. »Britisches Phlegma, Noblesse oblige, Gelassenheit selbst in Krisensituationen … Habe ich noch etwas ausgelassen?«
»Sei nicht so blasiert«, konterte Nefret.
»Das hatte ich vergessen«, fuhr Ramses fort. »Die Blasiertheit. Kann ich noch ein Sandwich bekommen?«
»Wie verhielt sich Mr. Reisner?« drängte ich.
»Er war nicht gerade begeistert«, gestand Geoffrey. »Ich erzählte ihm von den Problemen –«
»Was?« brüllte Emerson entgeistert.
»Oh, ich ging nicht ins Detail, Sir, ganz bestimmt nicht. Das war nicht erforderlich. Er meinte, daß Probleme bei euch an der Tagesordnung sind und daß er es im Anschluß an deren Klärung begrüßen würde, wenn er wenigstens einen Teil seines Mitarbeiterstabes zurückbekäme.«
Emerson schmunzelte, woraufhin Geoffrey skeptisch bemerkte: »Ich vermute, daß Jack hier ebenfalls nicht auftaucht. Ich möchte ja kein Schwarzseher sein, aber wie könnt ihr in dem Bewußtsein weiterarbeiten, daß er irgendwo da draußen wartet und beobachtet?«
»Und uns auflauert«, versetzte Ramses.
»Bislang hat noch kein Krimineller meine Exkavationen unterbrochen«, erklärte Emerson. »Wir sind im Begriff, eine bedeutende Entdeckung zu machen. Zweifellos wird das eine große Überraschung werden für … Ach, verflucht! Wird es nicht, nicht wahr? Ramses!«
»Ich habe doch gar nichts gesagt«, protestierte sein Sohn.
»Ich habe die Blicke bemerkt, die du mit David ausgetauscht hast. Du hast es also herausgefunden, nicht wahr?«
»Daß es sich um ein Königsgrab aus der dritten Dynastie handelt? Ja, Sir. Das war die logische Folgerung aus den von uns gesammelten
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