Amelia Peabody 11: Der Fluch des Falken
befand sich exakt in der Stimmung, die einen Menschen befällt, der diese Aufgabe bis zum letzten Augenblick hinauszögert und dann in Zeitverzug gerät.
»Liest du etwa dieses verfluchte Buch von Percy?« wollte er wissen. »Ich dachte, ich hätte dieses verdammte Ding in den Kamin geworfen.«
»Hast du auch.« Nefret bedachte ihn mit ihrem Grübchenlächeln. Die ihn bewundernden ägyptischen Arbeiter bezeichnen Emerson als Vater der Flüche; aufgrund seines cholerischen Temperaments und seiner hünenhaften Statur fürchtet ihn sozusagen ganz Ägypten. Wer ihn kennt, läßt sich von seinen Temperamentsausbrüchen allerdings nicht einschüchtern, und Nefret konnte ihn schon immer um den kleinen Finger wickeln.
»Ich habe ein weiteres Exemplar aus London angefordert«, bemerkte sie sachlich. »Bist du denn gar nicht neugierig, was er schreibt? Schließlich ist er dein Neffe.«
»Er ist nicht mein Neffe.« Emerson lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sein Vater ist nicht mein, sondern Tante Amelias Bruder. James ist ein hinterhältiger, scheinheiliger, verlogener Schwachkopf, und sein Sohn ist noch schlimmer.«
Nefret kicherte. »Was für eine Aneinanderreihung von Attributen! Ich kann mir nicht vorstellen, daß Percy noch schlimmer sein soll.«
»Ha!« entfuhr es Emerson.
Emersons Augen sind von einem strahlenden Saphirblau, das sich sogar noch vertieft, wenn er gereizt ist. Jede Erwähnung eines meiner Familienangehörigen versetzt ihn grundsätzlich in Rage, doch bei besagter Gelegenheit war mir klar, daß er sich nur zu gern ablenken ließ. Er rieb sich sein markantes Kinn, das ein überaus anziehendes Grübchen ziert, und blickte zu mir.
Ein der abgedroschenen Phrase zugeneigter Autor würde es vielleicht eher so umschreiben: unsere Blicke verschmolzen miteinander. Das geschieht oftmals, denn seit jenem glücklichen Tag, an dem sich unserer beider Herzen fanden und wir uns mit Leib und Seele der Ägyptologie verschrieben, stehen mein geliebter Emerson und ich in regem gedanklichem Austausch. Ich hatte den Eindruck, mich in dieser saphirblauen Iris zu spiegeln, (Gott sei Dank) nicht, wie ich wirklich bin, sondern so, wie Emerson mich in seiner liebevollen Verklärung sieht: als sein Ideal weiblicher Schönheit trotz meiner störrischen schwarzen Haarpracht, stahlgrauer Augen und stellenweise üppig gerundeter Silhouette. Darüber hinaus lag in seinem zärtlich anerkennenden Blick eine unterschwellige Bitte. Er wollte, daß ich diejenige war, die seine Arbeitsunterbrechung billigte.
Auch ich hatte nichts gegen eine Ablenkung. Schon seit mehreren Stunden hatte ich eifrig Notizen zu Papier gebracht, Listen aufgestellt und Kurzmitteilungen an irgendwelche Geschäftsleute verfaßt. In besagtem Jahr war mehr zu tun als sonst üblich – es handelte sich nicht nur um die gewohnten Pläne für die bevorstehende Ausgrabungssaison in Ägypten, sondern auch um die Vorbereitungen für zwei Hausgäste sowie die anstehende Hochzeit eines uns allen überaus am Herzen liegenden Paares. Meine Finger waren vom Schreiben verkrampft, und genaugenommen war ich leicht verärgert, daß Emerson Percys Buch verbrannt hatte, bevor ich einen Blick hineingeworfen hatte.
Das einzig weitere anwesende Familienmitglied war David. Eigentlich war er gar kein Angehöriger, doch das würde sich bald ändern, da er in wenigen Wochen meine Nichte Lia heiratete. Als die beiden das Aufgebot bestellten, wäre es fast zu einem Skandal gekommen. David war Ägypter, der Enkel unseres verstorbenen und tief betrauerten Rais Abdullah; Lia war die Tochter von Emersons Bruder Walter, einem herausragenden englischen Wissenschaftler auf dem Sektor der Ägyptologie, und meiner lieben Freundin Evelyn, der Enkelin des Earl of Chalfont. Die Tatsache, daß David ein begabter Künstler und ein ausgebildeter Ägyptologe war, besaß für Menschen, die alle Angehörigen »dunkler Rassen« als minderwertig ansahen, keinerlei Bedeutung. Glücklicherweise ist uns die Einstellung solcher Menschen verflucht egal.
Die von langen, dichten Wimpern umrahmten Lider halb gesenkt, blickte David verträumt lächelnd aus dem Fenster. Er war ein attraktiver junger Bursche, groß und kräftig, mit gut geschnittenen Gesichtszügen, und in der Tat war seine Hautfarbe nicht dunkler als die Ramses’, dem er (zufälligerweise) sehr ähnlich ist.
»Soll ich einige Passagen laut vorlesen?« bot sich Nefret an. »Ihr beiden habt so intensiv gearbeitet, daß euch eine kleine
Weitere Kostenlose Bücher