Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
Ramses. Jetzt, da sie in Sicherheit war, regte ihn die »junge Dame« allmählich auf. Ihrem Fuß fehlte verflucht noch mal nichts; sie versuchte schlicht und einfach, Mitgefühl zu erregen, in der Hoffnung, der drohenden und wohlverdienten Strafpredigt zu entgehen. Allerdings schien die Gouvernante eher erleichtert als wütend zu sein.
»Es war mein Fehler, Sir«, wandte sich das Mädchen an den Professor. »Ich hatte solche Angst, und er war so nett … Ich heiße Melinda Hamilton.«
»Es ist mir ein Vergnügen.« Emerson verbeugte sich. »Mein Name –«
»Oh, ich weiß, wer Sie sind, Sir. Alle kennen Professor Emerson. Und seinen Sohn.«
»Die meisten«, erwiderte Emerson. »Willst du sie nicht herunterlassen, Ramses?«
»Unglücklicherweise habe ich mir den Fuß verstaucht«, murmelte die junge Dame fröhlich.
»Den Fuß verstaucht, was? Dann kommst du am besten mit zu uns nach Hause und lässt Mrs Emerson einen Blick darauf werfen. Ich nehme sie mit, Ramses. Du kannst Miss – äh-hm – auf Risha mitbringen.«
Einen Teufel werde ich tun, dachte Ramses, als seine kostbare Fracht anmutig von seinen Armen in die seines Vaters glitt. Seinem prachtvollen Araberhengst würde das zusätzliche Gewicht nichts ausmachen, Miss Nordstrom ihn aber vermutlich der versuchten Vergewaltigung beschuldigen, wenn er sie in den Sattel hob und bei Sonnenuntergang davonritt.
Emerson strebte davon, er trug das Mädchen mit einer Leichtigkeit, als wäre es eine Puppe, und plauderte fröhlich über Tee und Kekse und die Sitt Hakim, seine Frau, die eine einzigartige Medizin für verstauchte Knöchel habe, und ihr Haus und ihre Haustiere. Ob sie Katzen mochte? Ah, dann musste sie Seshat kennen lernen.
Während Ramses sie beobachtete, beschlich ihn ein sonderbares und unverständliches Schuldgefühl, wie stets, wenn er seinen Vater mit einem Kind sah. Seine Eltern hatten ihm noch nie vorgeworfen, dass er sie nicht mit Enkelkindern beglückte; bis Sennia in ihr Leben getreten war, hatte er angenommen, dass es sie nicht sonderlich kümmerte. Er war sich noch nicht sicher, wie seine Mutter empfand, doch die Zuneigung seines Vaters gegenüber dem kleinen Mädchen war tief und rührend. Ramses vermisste sie ebenfalls, dennoch war er aus den unterschiedlichsten Beweggründen froh, Sennia in England gut aufgehoben zu wissen.
Er bemerkte die von Miss Nordstrom gemietete Kutsche und erklärte dem Fahrer, dass er die Dame zum Haus der Emersons bringen solle. Dann schwang er sich auf Risha, ritt heimwärts und fragte sich, was seine Mutter wohl von dem neuesten Liebling seines Vaters hielt.
Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass die Mitglieder meiner Familie Streuner jedweder Spezies in unser Haus bringen. Nefret ist diesbezüglich die schlimmste Vertreterin, denn sie nimmt sich ständig verletzter oder verwaister Tiere an, allerdings sind diese bei weitem weniger problematisch als verletzte oder verwaiste Menschen. Als Emerson in den Salon stürmte, ein kleines Geschöpf weiblichen Geschlechts auf dem Arm, beschlich mich eine seltsam vertraute Vorahnung. Männer besitzen eine ganze Reihe unangenehmer Eigenschaften, doch im Laufe der Jahre haben mir Frauen – insbesondere junge Frauen – erhebliche Probleme bereitet. Die meisten verlieben sich in meinen Gatten oder meinen Sohn beziehungsweise in beide.
Emerson schob die junge Person in einen Sessel. »Das ist Miss Melinda Hamilton, Peabody. Sie hat sich während des Aufstiegs zur Großen Pyramide den Fuß verletzt, deshalb habe ich sie hergebracht.«
Miss Hamilton schien keine Schmerzen zu haben. Mit einem breiten Grinsen erwiderte sie meinen Medizinerblick. Eine Lücke zwischen ihren beiden vorderen Schneidezähnen und ihre Sommersprossen gaben ihr das Aussehen kindlicher Unschuld, dennoch schätzte ich sie auf frühes Teenageralter. Sie trug ihr Haar noch nicht aufgesteckt und ihr Kleid war recht kurz. Ersteres war windzerzaust, Letzteres staubig und zerrissen. Sie trug keinen Hut.
»Du bist doch nicht etwa eine Waise, oder?«, erkundigte ich mich.
»Peabody!«, entfuhr es Emerson.
»Das bin ich in der Tat«, erwiderte die junge Person ungerührt.
»Verzeihung.« Ich fasste mich wieder. »Ich wollte lediglich feststellen – ziemlich ungeschickt, das gebe ich zu –, ob irgendeine besorgte Person in ganz Gizeh nach dir Ausschau hält. Bestimmt bist du nicht allein dort gewesen.«
»Nein, Ma’am, selbstverständlich nicht. Meine Gouvernante war bei mir. Der Professor
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