Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
und das Schutzdach aufzubauen hatte viel Zeit in Anspruch genommen, doch die erste Kammer, die auf ein großes, komplexes Grab hindeutete, war inzwischen freigelegt, und er hatte mit den Kopien der Reliefs begonnen. Die gemalten Fresken an der Westwand zeigten Prinz Sechemenchor und seine Gattin Hatnut, die vor einer einladend mit Speisen und Blumen gedeckten Tafel saßen. Die Inschriften wiesen die Namen der beiden aus, doch bislang hatte man keinerlei Anhaltspunkt auf einen Herrscher mit einem Sohn dieses Namens gefunden.
An jenem Nachmittag arbeitete Ramses allein. Er inspizierte die Wand, um zu prüfen, wie stark das Relief beschädigt und ob eine Restaurierung möglich war. Seine Gedanken waren augenblicklich nicht gerade erbaulich, und als Selim zu ihm stieß, reagierte er ziemlich ungnädig.
»Nun? Was willst du?«
»Es ist ein Notfall«, sagte Selim. Er sprach häufiger englisch mit Ramses, um sein Sprachgefühl zu verbessern, und dehnte das längere Wort voll Begeisterung. »Ich denke, du kommst besser mit.«
Ramses richtete sich auf. »Warum ich? Wirst du nicht allein damit fertig?«
»Es handelt sich nicht um diese Art von Notfall.« Das Licht war schwach; sie benutzten Reflektoren, da die Versorgung mit Batterien eingeschränkt war und sein Vater weder Kerzen noch Fackeln duldete. Dennoch bemerkte er Selims weiß schimmernde Zähne in seinem schwarzen Bart. Offensichtlich erheiterte ihn irgendetwas, was er seinem Freund unbedingt zeigen wollte.
Als sie aus dem Grab in das sanfte Licht der Spätnachmittagssonne hinaustraten, vernahm Ramses Stimmen. Das sonore Gemurmel der Männer vermischte sich mit dem aufgeregten Geschrei von Kindern, und über allem ertönte und verebbte eine penetrante Geräuschkulisse, die an das Pfeifen einer Lokomotive erinnerte. Die Ägypter schätzten lautstarke Auseinandersetzungen und führten sie aus vollem Halse, doch die lauteste Stimme klang wie die einer Frau. Er beschleunigte seine Schritte.
Ramses hob seine Stimme, verlangte augenblicklich Ruhe und Information. Brüllend und gestikulierend trotteten die Männer auf ihn zu. Selim, der direkt hinter ihm stand, hob einen Arm und deutete auf etwas. »Da oben, Ramses. Siehst du es?«
Ramses legte eine Hand über die Augen und blickte nach oben. Die Sonne stand tief am westlichen Himmel und ihre letzten Strahlen hüllten die Pyramidenseite in goldenes Licht. Mehrere dunkle Silhouetten zeichneten sich vor dem schimmernden Gestein ab.
Die Große Pyramide zu besteigen war ein beliebter Touristensport. Die Steinblöcke bildeten eine Art Treppe, doch da die meisten Quader fast einen Meter hoch waren, war die Kletterpartie für die Mehrheit der Besucher zu anstrengend ohne die Unterstützung mehrerer Ägypter, die von oben zogen und manchmal auch von unten schoben. Gelegentlich kapitulierte ein furchtsamer Abenteurer auf dem Weg nach oben, dann mussten seine Gehilfen ihn gnadenlos hinunterschleifen. Vielleicht war etwas Derartiges vorgefallen, dennoch vermochte er nicht nachzuvollziehen, warum Selim ihn bei der Arbeit unterbrochen hatte, damit er die Schmach irgendeines unseligen Mannes mit ansah … Nein, keines Mannes. Blinzelnd erkannte er, dass die reglose Gestalt weiblichen Geschlechts war.
Sie befand sich gut und gerne auf halber Höhe, 70 Meter über Bodenniveau, und saß aufrecht auf einem der Steinquader, die Füße ausgestreckt. Auf diese Entfernung hin nahm er keine Einzelheiten wahr – lediglich einen unbedeckten dunklen Schopf und eine schlanke Gestalt in heller europäischer Kleidung. Nicht weit von ihr, aber doch Abstand haltend, befanden sich zwei Männer in langen ägyptischen Gewändern.
Er wandte sich an Scheich Hassan, das selbst ernannte Oberhaupt der Fremdenführer, die Gizeh unsicher machten. »Was ist da los?«, erkundigte er sich. »Warum bringen sie sie nicht nach unten?«
»Sie lässt sie nicht.« Hassans rundes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Sie beschimpft sie auf übelste Weise, Bruder der Dämonen, und schlägt sie mit ihrer Hand, sobald sie ihr zu nahe kommen.«
»Sie hat sie geschlagen?« Ramses unterdrückte ein Lachen. Dafür war die Situation zu ernst. Die unglückselige Person war vermutlich hysterisch geworden, und wenn die Führer sie gegen ihren Willen überwältigten, konnte ihr Widerstand zu einem Unfall ihrerseits führen und einer Klage wegen Körperverletzung – oder Schlimmerem – gegen die beiden. Ein Beweis für eine böswillige Absicht war nicht erforderlich,
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