Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
Nefret machte keine halben Sachen; ihr liebevolles, mitfühlendes Naturell und ihre grenzenlose Großherzigkeit hätten einem Mann überzeugende Leidenschaft vorgegaukelt, selbst wenn dieser sie nicht so verzweifelt begehrte wie er.
Dennoch musste el-Gharbis Enthüllung der Wahrheit entsprechen, da sie direkt von Percy stammte. Es sei denn, der Zuhälter log aus irgendeinem unerfindlichen, persönlichen Grund …
Ob wahr oder unwahr, er hatte die Geschichte nicht unbegründet erfahren, und er bezweifelte, dass el-Gharbis Motive uneigennützig waren.
Konnte sie trotzdem stimmen? Er kannte Nefret gut genug, um zu wissen, dass es sich so verhalten haben könnte. Fünf Minuten bevor sie an jenem Morgen nach unten gegangen waren, hatte sie in seinen Armen gelegen und seine Küsse erwidert. Um dann mit dem diabolisch gestrickten Beweisnetz konfrontiert zu werden, das ihn eines Verbrechens brandmarkte, welches sie für schlimmer hielt als Mord … Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie schmerzvoll und beklemmend diese Anschuldigung auf ihn selbst gewirkt hatte, obschon er genau wusste, dass ihn keine Schuld traf.
Und er hatte sie gehen lassen. Er musste sich um andere Verpflichtungen kümmern – das Kind, seine Eltern, die unmittelbare Bedrohung der Mutter des Kindes –, aber er hatte genauso kopflos gehandelt wie Nefret, und das aus denselben ausgesprochen kindischen und doch menschlichen Beweggründen: Schmerz und Wut und Enttäuschung. Sie hatten sich beide wie verliebte Idioten verhalten, und doch hätte es letztlich ein gutes Ende genommen, hätte Percy nicht seine Hand im Spiel gehabt.
Was hatte el-Gharbi ihm über Percy zu vermitteln versucht?
Er gab dem Diener ein paar Münzen und schlüpfte in die Gasse hinter dem Bordell. Allmählich verlangsamte er seine Schritte, bis er stocksteif stehen blieb. Ein einziger Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: »… er würde keine Forderungen an sie stellen …«
Keine Forderungen, in jeder Hinsicht? War es möglich? Das würde vieles erklären. Das Baby zu verlieren war der letzte Schlag gewesen, der zu ihrem psychischen Zusammenbruch geführt hatte. Falls diese kurze, unselige Ehe nicht vollzogen worden war – falls sie entdeckt hatte, zu spät entdeckt hatte, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug – falls sie ihn immer noch liebte und glaubte, dass ihr fehlendes Vertrauen zu ihm seine Liebe zu ihr zerstört hatte …
Schlagartig überwältigten ihn Mitgefühl, Zärtlichkeit und Reue. Ich werde es erneut versuchen, überlegte er. Falls es stimmt. Falls sie es zulässt. Falls es noch nicht zu spät ist.
Zunächst war da allerdings noch die andere Geschichte.
Die Weihnachtszeit nahte mit Riesenschritten, doch es fiel mir schwer, mich mental auf das Fest vorzubereiten. Kaum verwunderlich bei einer auseinander gerissenen Familie, Gerüchten, dass türkische Truppen den Sinai erreichten, und den erschütternd hohen Verlustlisten von der Westfront. Wenn ich daran dachte, dass jene beiden hübschen, sensiblen Jungen, die ich so sehr liebte, in einem schlammigen Schützengraben dem Tod ins Auge sahen, sank meine Stimmung ins Bodenlose. Für ihre Eltern war es bestimmt noch härter, auch für das Mädchen, mit dem Johnny verlobt war. Welche Qualen mussten sie durchstehen!
Allerdings vernachlässige ich niemals meine Pflichten, und meiner Meinung nach machte die allgemeine Niedergeschlagenheit es umso zwingender, in der Weihnachtszeit zu feiern und die Gesellschaft der Freunde zu genießen, die noch bei uns waren. Es waren allerdings weniger als in früheren Jahren. Monsieur Maspero, der Direktor der Antikenverwaltung, war in den Ruhestand getreten; er war schon seit einiger Zeit kränklich und die Verwundung seines Sohnes Jean zu Beginn jenes Herbstes hatte ihm einen schweren Schlag versetzt. Der junge Mann, ein hervorragender Wissenschaftler auf seinem Gebiet, war inzwischen wieder zu den Schützengräben zurückgekehrt. Howard Carter verbrachte den Winter in Luxor; seinem Mäzen, Lord Carnarvon, war das Ausgrabungsrecht für das Tal der Könige zugesprochen worden, nachdem Mr Theodore Davis aufgegeben hatte. Howard stimmte nicht mit Davis’ Aussage überein, dass es keine weiteren königlichen Grabstätten im Tal gebe. Er war erpicht darauf, welche zu finden.
Unsere engsten Freunde, Katherine und Cyrus Vandergelt, arbeiteten in der näheren Umgebung, bei Abu Sir. Katherine würde ebenfalls Beistand benötigen; ihr Sohn war bei den Ersten gewesen, die
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