Amelia Peabody 12: Der Donner des Ra
Schutzbrille versehen, die er momentan jedoch hochgeschoben hatte. Katherine widmete sich der Aufgabe, die Schleier zu entwirren, in die sie gehüllt war, und nachdem Cyrus mich ausgesprochen herzlich begrüßt hatte, erklärte er: »Wir haben in Gizeh angehalten, um Emerson einzusammeln.«
»Eine hervorragende Idee, sonst wäre er immer noch dort«, erwiderte ich. »Wo ist Anna? Ihr habt sie doch hoffentlich nicht allein zu Hause gelassen. Sie hat, so glaube ich, eine Neigung zur Schwermut. Das ist ungesund. Vielleicht sollte sie mehr Zeit mit uns verbringen. Wir werden sie ablenken und aufmuntern.«
»Du bist unverbesserlich, Amelia«, meinte mein Gatte, während er sich bequem in einen Sessel sinken ließ und seinen kleinen Stapel Post durchging. »Wie kommst du darauf, dass Katherine im Umgang mit ihrer Tochter deinen Rat braucht?«
»Amelias Anregungen sind mir immer willkommen«, räumte Katherine mit einem herzlichen Lächeln ein. Sie sah aus, als könnte sie ebenfalls eine kleine Aufmunterung vertragen. Ihre rundlichen Wangen waren schmaler geworden und ihr Haar wesentlich ergrauter als noch im Vorjahr.
»Wir haben Anna bei Ramses gelassen«, fuhr sie fort. »Er war noch nicht ganz fertig und sie wollte bleiben und ihm Gesellschaft leisten.«
»Dann werden wir mit dem Tee nicht auf sie warten«, entschied ich. »Emerson, würdest du die Güte besitzen und Fatima mitteilen, dass sie servieren kann?«
Emerson, der die meisten Briefe – wie üblich ungehalten – zu Boden geworfen hatte, reagierte nicht, sondern starrte wie hypnotisiert auf einen. Ich musste seinen Namen ziemlich laut wiederholen, ehe er aufsah.
»Weshalb brüllst du mich an?«, wollte er wissen. »Keine Sorge, Professor, ich werde es ihr sagen.« Nefret erhob sich.
»Wem was sagen?«, fragte Emerson.
»Beide Fragen haben sich inzwischen erledigt«, schaltete ich mich ein. »Also wirklich, Emerson, es ist überaus unhöflich von dir, im Beisein unserer Gäste die Post zu studieren. Welcher Brief fesselt dich denn so?«
Schweigend reichte Emerson mir diesen.
»Oh, die Mitteilung von Major Hamilton«, bemerkte ich. »Das wird dir doch hoffentlich nicht die Stimmung verderben.«
»Diesbezüglich besteht absolut keine Gefahr«, konterte mein Gatte und richtete seinen stechenden Blick auf mich. »Oder fällt dir ein plausibler Grund ein?«
»Nun, mein Schatz, es handelt sich um eine ziemlich schroffe Absage, und ich weiß, dass du dich auf ein Zusammentreffen gefreut –«
»Pah«, schnaubte Emerson. »Kein Wort mehr, Peabody. Wo ist – ah, da bist du ja, Fatima. Schön. Ich möchte meinen Tee.«
Fatima und ihre junge Gehilfin waren mit dem Teegeschirr beschäftigt, als ein geschecktes Wesen so abrupt auf der Brüstung landete, dass Cyrus aufschreckte.
»Heiliger Strohsack«, entfuhr es ihm. »Wie ist sie hier heraufgekommen? Nicht über die Treppe, sonst hätte ich sie bemerkt.«
Seshat beäugte ihn kritisch und fing an, sich zu putzen. »Sie klettert wie eine Eidechse und saust durch die Luft wie ein Vogel«, sagte ich lachend. »Es sieht gefährlich aus, wenn sie von einem Balkon zum anderen springt. Wir hatten stets ausgesprochen schlaue Katzen, aber keine war dermaßen behände wie diese.«
Kaum eine Minute nach Seshats Auftauchen folgte Ramses; entweder hatte sie ihn von irgendeinem Aussichtspunkt auf dem Dach wahrgenommen oder ihre bisweilen unheimlichen Instinkte hatten sie geleitet. Anna war bei ihm.
Katherines Tochter aus ihrer ersten, unglücklichen Ehe war mittlerweile Anfang zwanzig. Sie war, das muss ich aufrichtig zugeben, eine recht unscheinbare junge Frau. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die im Gegensatz zu ihrer Tochter an den richtigen Stellen wohlproportioniert war und deren grüne Augen und das mit grauen Fäden durchzogene Haar an eine aparte Tigerkatze erinnerten. Annas Augen waren von einem matten Braun, ihr Gesicht schmal und blass; sie lehnte Kosmetik ab und bevorzugte schlichte Kleidung, die ihre Figur in keiner Weise vorteilhaft unterstrich. Sie hatte sich scheinbar nie für Männer interessiert, mit Ausnahme einer extrem unangenehmen Phase, in der sie für Ramses schwärmte. Er hatte diese Sympathie nicht erwidert, so dass wir erleichtert aufatmeten, als es vorüber war. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihn an diesem Tag besonders kühl behandelte. Nachdem sie uns begrüßt hatte, setzte sie sich neben Nefret auf den Diwan und begann, sich nach dem Hospital zu
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