Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
Gegenüber zog eine Grimasse. »Es wäre auch reichlich spät, eine Verwandtschaft dieser Art einzuläuten. Sethos reicht völlig. Ich habe meinen richtigen Namen schon so lange nicht mehr verwendet, dass ich schwerlich darauf reagieren würde.«
Er hatte Nefrets Einladung, gemeinsam mit ihnen zur Dahabije zurückzukehren, abgelehnt. Jetzt setzte er sich in den Schneidersitz und bot ihnen mit einer höflichen Geste einen Platz auf dem Sarg an. Es war ein Sarg. Gleichwohl vermittelten der Geruch von Sägespänen und Firnis dem Raum etwas Anheimelndes, und Nefret hatte die Taschenlampe so ausgerichtet, dass sie einander sehen konnten.
Ramses hatte den Blick auf sein Gegenüber geheftet. Er hatte Sethos bei mehreren Gelegenheiten in unterschiedlichen Tarnungen gesehen – als ältliche Amerikanerin, als Geistlichen, als blasierten, jungen Aristokraten und zuletzt als schottischen Ingenieur mit rotem Haar –, aber jetzt bot sich ihm zum ersten Mal die Gelegenheit, die Züge dieses Mannes genauer zu studieren. Er trug die Kleidung der Einheimischen, sein Kopf war unbedeckt, seine Füße nackt. Im Moment war sein Haar schwarz, was nicht viel zu bedeuten hatte, aber Ramses erkannte zumindest, dass es sein eigenes war, kräftig und leicht gewellt. Seine Augen – zum Teufel, welche Farbe hatten sie? Ein eigentümlicher Ton zwischen grau und braun mit einem grünlichen Schimmer, hatte Ramses’ Mutter behauptet, die Sethos näher gekommen war als alle anderen Familienmitglieder. Ramses hätte es nicht zu sagen vermocht, das Licht war zu schwach. Sein Onkel hatte den gelösten Vollbart abgenommen. Kinn, Wangenknochen und Mund waren ungetarnt, und da dies ein rascher Raubzug im Dunkel der Nacht werden sollte, hatte er sich nicht der Mühe unterzogen, seine ebenmäßigen, weißen Zähne zu kaschieren. Auch die Nase war wieder naturgegeben, da Nefret die zermatschte Masse inzwischen entfernt hatte. Und diese Nasenform war ihm seltsam vertraut.
Sethos war sich seiner intensiven Prüfung durchaus bewusst. Mit einem belustigten Grinsen bemerkte er: »Hast du eine Zigarette für mich? Das Problem mit diesen Roben ist, dass sie keinerlei Taschen haben.«
Wortlos reichte Ramses ihm das Päckchen und eine Streichholzschachtel.
»Sei vorsichtig mit diesen Streichhölzern«, warnte Nefret. »Du willst doch keinen Großbrand entfachen.«
Sethos blies einen vollkommenen Rauchring in die Luft. »Ist sie immer so vermessen?«
»Nicht mehr als Mutter«, antwortete Ramses.
Sethos wandte sich zu dem Porträt. »Ganz schön gerissen von euch, mich damit aus meinem Versteck zu locken. Ansonsten wäre euch das nie gelungen. Ich habe mich nach Kräften bemüht, euch aus dem Weg zu gehen. Bitte, sagt jetzt nicht, dass ihr das Ganze initiiert habt, um mich dazu zu bewegen, Königin Tejes Juwelen zurückzugeben. Ich werde es nicht tun, so viel steht fest.«
»Damit hatte ich auch nicht gerechnet«, erwiderte Ramses. »Dann bist du also wieder im Geschäft?«
»Ich war nie raus. Meine neuerlichen Aktivitäten für einen Staat, der seine Diener so kümmerlich entlohnt, hatten keinerlei Auswirkung auf die Ausübung meines eigentlichen Berufs.«
»Dann warst du es auch, der Ibn-Rashid seiner Diamanten entledigt hat?«
»Wieso weißt du davon?«
Er klang verblüfft und leicht verärgert. Erfreut, an seiner unnahbaren Fassade gekratzt zu haben, war Ramses versucht, ihn weiterhin im Ungewissen zu lassen, aber die Zeit drängte und sie hatten noch eine Menge zu klären.
»Margaret Minton ist in Kairo. Sie hat Mutter berichtet, was in Hayil wirklich vorgefallen ist. Sonst hat sie es niemandem erzählt.«
»Ah.« Genüsslich wählte Sethos eine weitere Zigarette aus und zündete sie an. »Warum?«
»Warum sie es Mutter erzählt hat? Man kann nur vermuten …«
»Dass sie in Mutter die Frau erkannte, für die du sie irrtümlich gehalten hast, und dass sie herausfinden wollte, was mit dir geschehen ist«, warf Nefret unwirsch ein. »Komm, sei ehrlich. Es war reine Absicht von dir, dass sie sich Hals über Kopf in dich verlieben sollte.«
»Selbstverständlich. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob es mir gelungen ist. Frauen sind so unberechenbar. Nun, nun. Und was will sie jetzt?«
»Dich jedenfalls nicht«, schnaubte Nefret. »Mutter hat ihr von deinem Tod erzählt.«
»Hoffentlich war das alles.« Sein schwaches Lächeln war verschwunden. »Es wäre meiner Sache nicht dienlich, wenn ein Journalist herausfände, welch edelmütiges Opfer
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