Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
war vor nicht allzu langer Zeit ein Stück Gestein abgeschlagen worden, dort schimmerte der Felsen blass und glatt. Diese Arbeit hätte weder viel Zeit noch Mühen gekostet und auch keinerlei Misstrauen erregt, es sei denn, man suchte nach einem Verdachtsmoment. Das verwitterte Gestein löste sich ständig und fiel in die Tiefe. Aber der Mann hatte eine Art Meißel benutzt. Er konnte die Spuren erkennen. Und er fand andere Hinweise, die zwar abgekratzt und weggewischt, jedoch nicht völlig beseitigt worden waren.
Auf seinem beschwerlichen Weg nach Deir el-Bahari begegnete Ramses nur einem Mann – einem freundlichen Dorfbewohner aus Gurneh, der ihn kaum erstaunt begrüßte, ihn mit einem wissenden Grinsen bedachte und fragte, ob er verschollene Gräber suche.
Er bewältigte den langen Rundweg und kletterte dann den steilen, aber sicheren Pfad auf der Nordseite des Tempels hinunter. Auf der Höhe der zweiten Terrasse erwarteten ihn Nefret und Barton mit Jamil und den Pferden.
»Irgendwas gefunden?«, erkundigte sich der Amerikaner.
»Nein.«
»Hören Sie, ich möchte ja nicht neugierig sein. Es ist nur, ich habe so viele Geschichten über Ihre Familie gehört … War es wirklich ein Unfall?«
»Zweifellos.« Ramses wandte sich zu Jamil. Nefret musste ihm von dem Vorfall erzählt haben; er wirkte aufgeweckter, als Ramses ihn je erlebt hatte. »Jemand muss nach Luxor reiten, Jamil. Der … äh … Unfall muss der Polizei gemeldet werden.«
»Sie werden nichts unternehmen«, meinte Jamil skeptisch.
Vermutlich hatte er Recht. Schuldbewusst dachte Ramses an den Toten, eine willkommene Beute für Raubvögel, gleichwohl war die Vorstellung, dessen sterbliche Überreste mitzunehmen, selbst für ihn unerträglich.
»Trotzdem muss man sie informieren«, beharrte er. »Und zwar schnell.«
Auf Nefrets Vorschlag hin schickte er einen der Wächter, den er mit einem großzügig bemessenen Bakschisch entlohnte. Jamil würde in jedem Kaffeehaus von Luxor einkehren, bevor er die Polizei aufsuchte, wenn er überhaupt dorthin ginge.
Sie nahmen ihre Drinks im Salon ein, während Nefret Barton untersuchte. Er errötete wie ein Schuljunge, als sie darauf bestand, dass er sein Hemd ausziehen müsse. Seine Verletzungen waren harmloser Natur – Schnittwunden, Hautabschürfungen und Prellungen – und fast alle auf dem Rücken. Seinem eigenen Whisky zusprechend, machte Ramses höfliche Konversation und gab sich weniger gastfreundlichen Gedanken hin.
Gleichwohl war es nicht einfach, Distanz zu einem Mann zu wahren, mit dem man Whisky trank und der Ramses’ Arbeit bewunderte. Als Barton schließlich aufbrach, waren sie beim Du angelangt. Barton schien keine Eile zu haben. Nefret musste ihn zweimal daran erinnern, dass Lansing sich Sorgen um seinen Verbleib machen könnte, ehe er sein Glas absetzte und sich erhob und ihr nochmals danken wollte. Ramses nahm seinen Arm und führte ihn hinaus.
»Soll ich Ambrose von dem Vorfall berichten?«, fragte Barton.
»Warum nicht?«
»Öh … Keine Ahnung. Also dann. Nochmals vielen Dank.«
Als Ramses in den Salon zurückkehrte, deckte Nasir den Tisch für das Abendessen ein. Mittlerweile war er nicht mehr ganz so ungeschickt, dennoch fand er einen neuen Vorwand zum Verweilen, indem er die Servietten kunstvoll faltete. Sein Ehrgeiz überstieg sein Können; für diesen Abend schien er sich wohl an einem fliegenden Vogel versuchen zu wollen, indes ähnelte das Ergebnis eher einer geköpften Ente. Ramses schickte ihn mit ein paar schroffen Bemerkungen weg und stellte sich neben Nefret, die sich auf dem Diwan ausgestreckt hatte.
»Du hast seine Gefühle verletzt«, warf sie ihm vor.
»Dann sorg dafür, dass er damit aufhört. Es dauert ewig, bis man die Servietten wieder aufgeknotet hat.«
»In Ordnung, mein Schatz, ich werde es versuchen. George ist ein netter Junge, nicht wahr? Wirklich schade, dass er eine so unangenehme Erfahrung machen musste.«
»Wenn er in Ägypten bleiben will, gewöhnt er sich besser daran.«
»Also wirklich, Ramses! Es kommt doch nicht alle Tage vor, dass man über eine Leiche stolpert. Wir könnten ihn und Mr Lansing und Monsieur Legrain zu einem gemeinsamen Abendessen einladen – mit Miss Minton.«
»Wenn du Zeit auf gesellschaftliche Anlässe verschwenden willst, bitte, dann tu dir keinen Zwang an. Ich hatte den Eindruck, dass du die Frau bewegen willst, sich dir anzuvertrauen. Gut möglich, dass sie in Gegenwart Dritter nicht offen reden wird.«
»Meine
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