Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
und Emerson war immer der Meinung gewesen, dass die Grabstätte sachkundig freigelegt werden sollte. Ramses hatte nicht vor, es Barton gegenüber zu erwähnen, der näher getreten war und in das finstere Loch spähte. Ramses vermochte seine Faszination nachzuvollziehen; es handelte sich um eine der fantastischsten Geschichten in der Ägyptologie: Die Mumien des ägyptischen Adels, geschändet und geraubt und aufgeschichtet wie Klafterholz, hatten dort 3000 Jahre lang verborgen gelegen und waren von einer Familie neuzeitlicher Grabräuber entdeckt worden, die wiederholt gestohlene Artefakte veräußerte, bis die Antikenverwaltung sie geschnappt hatte.
»Wir gehen besser weiter«, sagte er.
Das Fortkommen war nicht einfach; der Pfad stieg an und fiel ab, wand und schlängelte sich entlang des losen Gerölls, das die thebanischen Klippen begrenzte – im Laufe der Jahrhunderte ausgewaschen und verwittert von Unwettern und Stürmen. Barton nahm immer wieder Nefrets Arm, brachte sie aus dem Gleichgewicht und stützte sie dann. Er schien sein Tun nicht zu bemerken, und sie war so höflich, darüber hinwegzusehen.
Die Öffnung des königlichen Mumienverstecks lag noch nicht weit hinter ihnen, als Ramses verharrte. »Das wird es sein.«
»Woher weißt du das?«, fragte Nefret, Bartons Hand abschüttelnd.
»Es ist die korrekte Entfernung.« Ramses schaute sich um. »Er hat gesagt, dass sich südlich der Anhöhe ein Felsblock befindet, der einem Schafskopf ähnelt.«
»So sehen sie doch alle aus«, murmelte Nefret.
»Ich werde hinaufgehen und einen Blick riskieren«, bemerkte Ramses. »Bleibt ein Stück zurück.«
Der Aufstieg war nicht besonders schwierig. Er hatte solche Klippen schon Hunderte Male erklettert. Die Oberfläche war so uneben, dass sie ihm genügend Halt für Hände und Füße bot; man musste nur jeden einzelnen Felsvorsprung testen, ehe man sein Gewicht darauf verlagerte. Er tastete sich langsam, aber sicher voran und war fast auf dem Grat angelangt, als Nefret schrie.
Ein noch lauteres, dröhnenderes Geräusch schloss sich an, überlagerte ihre Stimme, aber er hatte bereits reagiert, sich auf eine Seite geworfen, und seine Hände und Füße tasteten nach einem Halt. Der Felsblock donnerte nur Zentimeter von seiner Hand entfernt in die Tiefe, gefolgt von einem Geröllregen, und prallte mit einer solchen Wucht am Boden auf, dass sich eine Fontäne aus Steinsplittern erhob. Sie regneten auf die beiden, an die Klippe gekauerten Gestalten nieder.
Ramses wusste nicht mehr, wie er nach unten gekommen war. Die Risse in der Frontpartie seines Hemdes zeugten davon, dass er mehr oder weniger hinuntergerutscht war. Von ihnen dreien war Nefret am glimpflichsten davongekommen, dank Bartons rascher Reaktion. Als Ramses sie erreichte, hielt der junge Mann sie immer noch fest, seine langen Arme um ihren Körper geschlungen und den Kopf über sie gebeugt. Ramses riss ihn gewaltsamer als nötig von Nefret weg und neigte sich über seine Frau. Sie strich sich das Haar aus den Augen und schrie erleichtert auf.
»Gott sei Dank. Ich sah nur noch, wie dieser Felsbrocken direkt auf dich zukam. Hilf mir auf.«
»Bist du sicher, dass dir …«
»Ja, mir fehlt nichts. Dank Mr Barton.«
Ramses ließ ihre Hände los und wandte sich entschuldigend an Barton.
»Tut mir schrecklich Leid.«
Am Boden liegend, seine ungelenken Gliedmaßen seltsam gekrümmt wie eine vierbeinige Spinne, grinste Barton schwach. »Nein, mir tut es Leid. Ich habe nicht gesehen … Ich hätte … ich war einfach zu langsam. Habe ich ihr wehgetan? Ich wollte nicht …«
»Ja, ja, alles in Ordnung«, bemerkte Ramses in einer Interpretation seiner unzusammenhängenden Äußerungen. Barton hatte Nefret angestarrt und alles um sich herum vergessen, bis sie aufschrie.
Nefret war aufgestanden, etwas blass um die Nase, aber sicher auf den Beinen. »Da oben war jemand.« Sie deutete dorthin. »Ich habe seinen Kopf und die Schultern gesehen, und dann … o mein Gott! Sieh nur!«
Die Gestalt schien eher zu schweben, als zu stürzen, weite Ärmel und fließende Gewänder breiteten sich anmutig aus, wie die Schwingen eines riesigen Vogels, dennoch traf er mit einem geräuschvollen und grässlichen Knall am Boden auf. Ramses wurde sich erst bewusst, dass er sich gerührt hatte, als ihm ein Entsetzensschrei von Nefret zu erkennen gab, dass er sie auf die Erde gestoßen hatte und auf ihr lag.
»Steh auf«, keuchte sie, ihn von sich zerrend. »Ist er tot?«
Die
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