Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
vorgestellt hatte, aber Emersons Lippen verzogen sich zu einem männlich wissenden Grinsen.
»Das Mädchen, das Nefret erwähnt hat? Nun, es gibt nichts Besseres als eine schöne Frau, wenn man …« »Emerson, bitte!« Mit einer Geste bedeutete ich ihm, dass ein unschuldiges Kind zugegen war. »Hast du die junge Frau kennen gelernt, Daoud?«
»O ja. Nur Misur meinte, du würdest mein Urteil über sie hören wollen. Sie ist sehr, sehr hübsch.«
Er nahm sich ein weiteres Sandwich.
»Ist das alles?«, drängte ich.
Daoud wog die Frage ab. »Sie tritt überaus energisch auf und sagt, was sie denkt. Von daher ist es gut möglich, dass Yusuf keinen Ehemann für sie finden wird, obwohl sie sehr, sehr …«
»Verstehe. Oha. Emerson, ich sehe Komplikationen voraus.«
»Solange sie sich nicht als ein weiteres dieser verfluchten jungen Liebespaare entpuppen«, knurrte Emerson.
»Wir schienen förmlich davon heimgesucht und sie waren eine verfluchte … äh … verflixte Plage.«
»Da ist noch eine weitaus bedeutsamere Sache«, sagte Daoud, den junge Liebespaare nicht interessierten, und setzte betont hinzu: »Es war nicht die Nur Misur, die mir das erzählt hat.«
»Irgendwas über die Grabräubereien?«, forschte Emerson.
Daoud räusperte sich. Mit der Gabe eines begnadeten Geschichtenerzählers hatte er diese Neuigkeit für den Schluss aufgehoben, und seine feierliche Stimme bewies, dass er zitierte. »Es ist in Luxor bekannt, dass der Meister zurückgekehrt ist. Seinen Aufenthaltsort kennt keiner.
Genauso wenig wie seine wahre Identität. Er hat 1000
Gesichter und 10.000 Namen.«
Das sich daran anschließende Schweigen wurde lediglich von zerschellendem Porzellan untermalt. Mr Amherst hatte seine Tasse fallen lassen.
Aus Manuskript H
Das leise Geräusch ließ Ramses jäh aus dem Schlaf schrecken. Die Vorhänge vor dem Fenster flatterten in der Morgenluft. Ihm blieb gerade noch Zeit, um seine Füße zu Boden zu schwingen und sicherzustellen, dass seine Blößen bedeckt waren, als die Tür aufsprang.
Nefret setzte sich ruckartig auf. Die Kerze in Margarets Hand warf hässliche Schatten auf ihr Gesicht, zeichnete dunkle Ringe unter ihre Augenhöhlen und verlängerte ihre Nase. »Ihr müsst sofort kommen!«, befahl sie. »Er ist wach.«
Das Fenster des Raums, in dem sie ihren Gast untergebracht hatten, ging nach Osten. Es war nicht ganz so früh, wie Ramses gedacht hatte; der Himmel über den östlichen Klippen war bereits in das bleiche Licht der Morgendämmerung getaucht. Er hatte erwartet, dass Sethos auf den Beinen und voller Kampfgeist wäre, gleichwohl erhellte der Kerzenschein eine reglose, im Bett liegende Gestalt. Das Gesicht, das über der Decke hervorlugte, die ihn vom Kinn bis zu den Füßen einhüllte, war unrasiert, eingefallen und beinahe so grimmig wie gelegentlich Emersons.
»Geschickt eingefädelt«, meinte er. »Ich nehme an, es hat keinen Sinn, wenn ich dich bitte, mir meine Kleidung wiederzugeben?«
»Wir lassen mit uns handeln«, entgegnete Nefret. Sie wirkte entschieden munterer als Ramses. Ein Gähnen unterdrückend, das ihm den Kiefer zu brechen drohte, lehnte er sich gegen die Wand und verschränkte die Arme. Nefret öffnete ihren Arztkoffer. Sethos’ Miene beim Anblick des Thermometers heiterte Ramses erheblich auf. »Nein«, sagte er entschieden.
»Doch«, erwiderte Nefret. »Muss ich Ramses erst bitten, dass er dich festhält?«
Sein Onkel überlegte. Ramses, der sich zunehmend amüsierte, beobachtete den Kampf zwischen gesundem Menschenverstand und dem unsinnigen, aber begreiflichen Wunsch, jemanden zu verdreschen.
»Dann schickt sie wenigstens erst raus, bevor ihr mir meinen letzten Rest Würde nehmt.« Sethos blickte demonstrativ zu Margaret. Es war das erste Mal, dass er sich dazu herabließ, ihre Anwesenheit zu registrieren.
»Das kann ich nachvollziehen«, räumte Nefret ein. »Margaret, gehen Sie und kleiden Sie sich an. Benutzen Sie das Nebenzimmer.«
Eigensinnig schweigend ließ Sethos Nefrets Untersuchung über sich ergehen. »Temperatur und Puls sind normal«, verkündete sie. »Aber du weißt, was mit dir los ist, nicht wahr?«
Er antwortete mit einer Gegenfrage. »Malaria?«
»Sieht so aus. Um welche Zeit setzte der letzte Anfall ein?«
Sethos tat ihre Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Du musst dich nicht vor mir aufbauen wie ein Gefängniswärter, Nefret. Ich habe nicht die Kraft, dich zu überwältigen, und schon gar nicht euch beide, und ich
Weitere Kostenlose Bücher