Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
einem schönen, gemeinsam verbrachten Weihnachtsfest oder … Ich darf gar nicht darüber nachdenken.«
»Sie können nicht von ihm wissen. Hmmm … oder doch?«
»Was meine Mutter betrifft, so ist alles möglich, dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie diese faszinierende Nachricht zu ihr gedrungen sein sollte. Bevor sie eintreffen, müssen wir ihn von der Amelia fortschaffen, Nefret.«
»Ja.« Sie blickten sich hilflos an. »Wie?«, hakte Nefret nach. »Und wohin?«
Ein Rascheln in den Zweigen und Ramses richtete sein Augenmerk sogleich wieder auf seine Umgebung. Er hatte den Saum des Kulturlandes fast erreicht; zu seiner Rechten lagen die Säulenfragmente des Tempels von Seth I. blass im Mondlicht. Zeit, sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Krisenstimmung hin oder her – immer schön eins nach dem anderen, sagte er sich.
Er kannte den Ort, hatte aber nie Lust verspürt, dort zu verweilen; es war eines von mehreren kleinen Dörfern zwischen dem Südende von Dra Abul Nagga und dem Tempel von Seth I. Er pirschte sich heran, tastete nach der Taschenlampe in seiner Jackentasche und fragte sich, ob er diese würde einsetzen müssen. Das Mondlicht müsste hell genug sein, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Von dem Kamm, den er als Aussichtspunkt wählte, wirkte die kleine Ansammlung von Hütten verlassen. Die meisten Dorfbewohner gingen zu Bett, sobald es dunkel wurde; Lampenöl war teuer. Ein Schutthaufen kennzeichnete das Grundstück, auf dem Sethos’ Haus gestanden hatte. Er hatte ganze Arbeit geleistet. Vermutlich hatten die Einwohner ein Übriges dazu beigetragen und in den Ruinen nach brauchbaren Gegenständen gesucht oder, in einer Anwandlung von Nächstenliebe, vielleicht auch nach einem Toten oder Verletzten.
Ramses hob eine Hand voll Steine auf und zielte damit in Richtung des Dorfes, um eine Geräuschkulisse zu erzeugen, als hätten Schritte diese losgetreten. Er wartete, lauschte. Er warf einen weiteren und wurde mit der ersten Reaktion belohnt, einem lauten Bellen. Sein Geschoss musste einen schlafenden Hund getroffen haben.
Er strebte den Abhang hinunter, voller Ungeduld, die Sache hinter sich zu bringen. Mehrere andere Hunde stimmten in die laut gekläffte Beschwerdeführung des ersten ein. Ein Licht zeigte sich am Fenster von einem der Häuser und eine Stimme fluchte in Arabisch. Alles völlig normal und harmlos, genau wie Sethos es vorausgesagt hatte.
Der aufgeschreckte Schläfer steckte den Kopf aus dem Fenster, verfluchte die Hunde. Mittlerweile verfolgten sie Ramses, knurrend und bellend. Das Fluchen wurde jählings unterbrochen, stattdessen folgte ein Erstaunensschrei, der ihm dokumentierte, dass man ihn gesehen hatte. Darauf drehte er sich um und trottete den Weg zurück, den er gekommen war.
Die dunkle Gestalt schien direkt vor ihm aus dem Boden zu wachsen. Er warf sich zur Seite, überschlug sich und landete auf den Füßen, als ein Messer den Boden an der Stelle traf, wo er noch Sekundenbruchteile zuvor gestanden hatte. Er erhaschte noch einen Blick auf das von Narben entstellte Gesicht, bevor er losstürmte, gegen Hindernisse prallte und der Versuchung widerstand, sich umzusehen. Eilende Schritte hallten hinter ihm, aber er war überzeugt, seinen Vorsprung halten zu können, und wenn er den Burschen nicht abhängte, bevor er den Saum des Kulturlandes erreichte, so gab es eine Reihe praktischer Schlupflöcher in den Tempelruinen, die ihm überaus vertraut waren …
Mubashir – es musste Mubashir sein – war das Gelände ebenso vertraut wie ihm. Er wich mehreren Senken aus, von denen Ramses gehofft hatte, dass er hineinstolpern werde, und kam unerbittlich näher. Schließlich jedoch stockten die Schritte. Ramses wollte schon einen Blick riskieren, als etwas sein Ohr streifte und sein geborgtes Gewand an der Schulter zerriss, ehe es vor ihm im Boden stecken blieb. Er rannte schneller.
Als er die Hinterseite des Tempels erreichte, sackte er keuchend auf dem Boden zusammen, verborgen von einigen Steinquadern. Von seinem Verfolger keine Spur. Der Syrer hatte das Messer lediglich geworfen, weil er erkannte, dass er das Rennen verlieren würde. Es war ein unglaublicher Wurf gewesen, im Mondlicht und auf ein sich rasch bewegendes Ziel, und Ramses war froh, dass er nicht über seine Schulter geblickt hatte. Vermutlich fehlte ihm dann jetzt die Nasenspitze und nicht nur ein Stück von seinem Ohrläppchen. Es hatte aufgehört zu bluten, im Gegensatz zu dem
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