Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
Ablenkungen verhinderten dies in der vorangegangenen Saison, und unser ursprünglicher Plan, im Frühling wiederzukommen, war aus familiären Gründen gescheitert.) Unsere zweitägige Exkavation brachte die Mauerreste der Kapelle und die Öffnungen mehrerer tiefer Schächte zum Vorschein, die zu den Grabkammern des Besitzers und seiner Familie führten. Das Dach war verschwunden – vermutlich in die darunter liegende Kammer eingebrochen – und der gesamte obere Teil war mit Sand und Geröll gefüllt. Da Emerson darauf bestand, dass jeder Quadratzentimeter Schutt durchgesiebt wurde, würde die Leerung der Kammer lange Zeit in Anspruch nehmen.
Eine lange, langweilige Zeit.
Nefret machte einige Fotos, gleichwohl blieb für Ramses nicht viel zu tun, bis (und so überhaupt) wir die Reliefs und Inschriften freilegten. Er winkte uns von seinem Aussichtspunkt oberhalb der Gruft.
»Da kommt Sennia angespurtet. Sieht aus, als hätte sie etwas gefunden. Bereite dich darauf vor, Begeisterung zu zeigen, Nefret.«
»Vermutlich ist es diesmal ein Kamelknochen«, gab Nefret zurück. »Es wird Zeit für eine Pause, Tante – ich meine, Mutter. Du hockst schon seit Stunden über diesem Sieb.«
Sie reichte mir ihre Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen – in den ersten Tagen bin ich immer etwas eingerostet, doch das legt sich rasch –, und Ramses ging Sennia entgegen, die Gargery um Längen überholt hatte. Ramses hob sie auf seine Schultern und trug sie in den Schatten, wohin Nefret sich gemeinsam mit mir zurückgezogen hatte.
»Sie hat eine aufregende Entdeckung gemacht«, verkündete er mit ernster Miene. »Aber sie will sie mir nicht zeigen.«
Sennias geballte Faust beulte die Frontpartie ihrer Jacke aus. »Er hat gesagt, es sei für mich«, erklärte sie. »Aber natürlich werde ich es euch allen zeigen.«
»Was ist es denn?«, drängte Emerson.
Sie nahm ihre Hand aus ihrer Jacke, öffnete behutsam ihre Finger und legte die andere Hand unterstützend unter den Gegenstand. Er bedeckte die beiden kleinen Handflächen – ein Stück Kalkstein, mit gerundeter Spitze und ungefähr 15x10 Zentimeter groß. Auf der oberen Hälfte waren reliefartig einige Figuren abgebildet; mehrere Hieroglyphenreihen verliefen horizontal darunter und endeten mit einer gezackten Bruchstelle.
»Sehr schön.« Emerson lächelte. »Wo hast du das gefunden, Sennia?«
»Dort.« Sie gestikulierte hektisch. Der Stein flog durch die Luft und Ramses fing ihn geistesgegenwärtig auf.
»Vermutlich hat sie ihn von einem der Führer bekommen«, meinte er, die Hieroglyphen prüfend. »Ein recht gefälliges … Hmmm.«
»Was ist es?«, drängte Emerson.
»Es scheint echt zu sein.«
Wir hatten alle angenommen, dass die Miniatur-Stele eine der Fälschungen wäre, wie sie zu Hunderten an gutgläubige Touristen verkauft wurden. Die so genannten Wächter versuchen es oft mit heimlichen Ausgrabungen – wer könnte es ihnen verdenken, in Anbetracht ihres kläglichen Salärs –, und obschon sie vernarrt in das Kind waren, hätte ihr vermutlich keiner etwas geschenkt, was man ebenso gut verkaufen konnte.
Wir rückten dicht zusammen. »Was steht darauf?«, erkundigte ich mich.
Ramses blies den Sand aus den eingemeißelten Zeichen. »›Dem viel gepriesenen Amun, Herr der Stummen, der erhöret ihre Gebete …‹«
»Wie kann er ihre Gebete erhören, wenn sie stumm sind?«, warf Sennia ein.
»Das wahre Gebet kommt von Herzen und nicht von den Lippen«, erklärte ich, die Gelegenheit aufgreifend, den religiösen Aspekt etwas zu vertiefen. »In der Heiligen Schrift steht geschrieben, dass die Heuchler auf den Straßen beten, wo man sie sieht, aber der wahre Gläubige geht in sich und spricht im Verborgenen zum Vater …«
»Ganz recht«, bekräftigte Ramses, der genau wie ich seinen Vater beobachtete und die Anzeichen eines drohenden Wutanfalls bemerkte. »In diesem Fall, kleine Taube, sind die Stummen die Armen und Elenden, die es nicht wagen, sich an den mächtigen Adel zu wenden, der ihre Geschicke bestimmt. Deshalb beten sie zu Amun-Re, dem …« Wieder blickte er auf die Inschrift. »… ›dem Beschützer der Armen, dem Vater der Waise, dem Gatten der Witwe – auf dass ich ihn sehe alle Tage, wie es sich für den Tugendhaften gehört; dies sagt …‹ Der Rest fehlt. Die Figuren darüber zeigen Amun auf seinem Thron, einen Tisch mit Opfergaben und eine kniende Gestalt vor sich – die des Opfernden, so könnte man annehmen. Schade, dass sein Name
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