Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
klärte mich mein Begleiter auf. »Ich habe ein Stück gesäubert, aber es ist nur einen halben Meter breit, also passen Sie auf, wo Sie Ihre Hände abstützen. Sie werden sich auf meine Schultern stellen müssen. Wie steht es um Ihre akrobatischen Fertigkeiten?«
»Ich werde es bald herausfinden, stimmt’s?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Genau. Also los.«
Es gelang mir, das Gleichgewicht zu halten, indem ich mich gegen die Mauer lehnte, während er mich hochhievte. Ich bin keine Sportskanone, aber ich schaffte es.
Auf seinen Schultern kauernd, blickte ich nach unten und starrte in zwei verblüffte Gesichter.
»Bei Allah!«, sagte einer. »Es ist eine Frau. Wo findet er sie bloß immer?«
Der andere Mann versetzte wesentlich sachdienlicher: »Drehen Sie sich um, Sitt, und stützen Sie sich mit den Händen ab. Ich werde Sie auffangen.«
Als ich schließlich unten war, bluteten meine Handflächen und meine Knie. Mittlerweile mussten wir uns außerhalb der Palastmauern befinden; ein schmaler Pfad wand sich links und rechts daran vorbei. Die hohen Mauern zu beiden Seiten blendeten das Sternenlicht aus; ich sah nichts außer den fahlen Roben der beiden Männer und einigen schemenhaften Konturen, die ich als Pferde identifizierte. Augenblicke später sprang mein Retter neben mir zu Boden.
»Bleiben Sie stehen!«, befahl er. »Bewegen Sie sich nicht.«
Er nahm die beiden anderen beiseite und redete leise und eindringlich auf sie ein. Ich konnte das Gesagte nicht verstehen, war mir aber ziemlich sicher, dass er nicht Arabisch sprach; der Sprachrhythmus unterscheidet sich erheblich von dem englischen. Einer der beiden anderen lachte; ihr Anführer, denn das war er wohl, reagierte mit einer kurzen Zurechtweisung. Dann kehrte er zu mir zurück, ein Pferd am Zaumzeug führend. Er streifte seinen Umhang ab und reichte ihn mir. »Ziehen Sie das an.«
Ich bekam das Ding über meinen Kopf und versuchte, die Ärmel zu finden. Er schwang sich in den Sattel und beugte sich nach unten. »Das ist gut so. Halten Sie Haar und Gesicht bedeckt.«
Es klingt so romantisch, wenn man es liest: Von seiner Armbeuge umschlossen, mein Gesicht an seine trainierte Brustmuskulatur geschmiegt, ritten wir durch die Nacht in eine Stadt voller Feinde! Ich konnte nichts sehen, ich konnte nicht atmen, ohne den rauen Baumwollstoff zu inhalieren, irgendetwas stieß mich in meine linke Hüfte und … und ich wünschte, es könnte ewig so weitergehen. Schließlich zog er den Stoff von meinem Gesicht. »Wir sind fast da. Ihre Männer sollten reisefertig sein. Wir haben einen Umweg gemacht, nur als Vorsichtsmaßnahme, aber Ed – einer von meinen Leuten – ist direkt in ihr Lager geritten, um sie zu warnen. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Damit Sie mich nicht mit einer Vielzahl verdammt dummer Fragen aufhalten, die ich ohnehin nicht zu beantworten gedenke.«
»Wer …«
»Insbesondere diese Frage.« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort und seine Stimme klang völlig verändert. »Sie schulden mir nichts. Sie hätten Sie letztlich laufen lassen, unberührt und ungeschoren. Der Junge hat einen ziemlich üblen Sinn für Humor, das ist alles. Ich hoffe doch sehr, dass Sie der Versuchung nicht werden widerstehen können, unser kleines nächtliches Abenteuer für Ihre Zeitung zu Papier zu bringen – schildern Sie es in den düstersten Farben; gleichwohl, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann sollten Sie meine … äh … linguistischen Fähigkeiten nicht erwähnen.«
»Sie meinen, ich darf nicht sagen, dass Sie Engländer sind.«
»Sie ziehen voreilige Schlüsse. Ich könnte Russe oder Franzose oder Türke oder Preuße sein …«
»Wer versucht sich da an Gilbert und Sullivan?«
»Warum nicht? Schauen Sie, ich habe mich einmal verraten, aus reiner Verblüffung … und, nein, keine weiteren Erklärungen … aber …«
»Ich verspreche Ihnen, ich werde kein Wort darüber verlieren. Werde ich … werde ich Sie jemals Wiedersehen?«
»Ich hoffe inständig, dass nicht.« Das Pferd war stehen geblieben. Er ließ mich zu Boden und saß ab.
Ich war so damit beschäftigt gewesen, seiner Stimme zu lauschen und einen besseren Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, dass ich meine Umgebung gar nicht wahrgenommen hatte. Wir waren am Stadtrand angelangt, an der Stelle, wo meine Männer das Lager aufgeschlagen hatten. Erleichternd aufseufzend umringten sie mich und entschuldigten sich vielmals.
»Genug«, sagte mein Begleiter in
Weitere Kostenlose Bücher