Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
hoch. Mit einer wegwerfenden Geste tat er Ramses’ Bedenken ab.
»Der Vater der Flüche wäre verärgert, wenn ich euch ohne Geleitschutz in die Berge gehen ließe. Jamil, bring mir mein Gewehr.«
Der Junge sprang auf und rannte hinaus. Als er zurückkehrte, weiteten sich Nefrets Augen und Ramses starrte verdutzt. Die Waffe war eine alte Martini, mindestens 40 Jahre alt. Sie war ständig geölt und geputzt worden, aber einschüssig und absolut ungenau auf weite Entfernungen, mit einem Rückschlag wie der Tritt eines Maulesels. Die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass man jemanden verletzte, war die, sie diesem über den Schädel zu ziehen, und Jamil spielte in einer Weise damit herum, dass er sich über kurz oder lang mit hoher Wahrscheinlichkeit selber ins Bein schießen würde.
»Yusuf, keiner der Männer aus Luxor bedroht uns«, bemerkte Ramses. »Du brauchst das nicht.«
»Nein, keiner in Luxor«, bestätigte Yusuf und entriss Jamil die Waffe. »Sie alle fürchten den Vater der Flüche und den Bruder der Dämonen, aber die Senussi haben Kharga und Siwa eingenommen und die Beduinen stehen unter Waffen.«
»Wann ist das passiert?«
»Vor ein paar Tagen«, erwiderte Yusuf mit der zeitlichen Unbestimmtheit, die charakteristisch für Männer ist, die weder eine Uhr noch einen Kalender besitzen. »Im Norden, nahe der Küste, wird gekämpft, und es heißt, dass die Engländer zurückfallen. Die Wüstenstämme von Kairo bis Nubien warten nur darauf, wer gewinnen wird. Wenn die Engländer verlieren, werden sie angreifen.«
Ramses fragte sich, wie exakt Yusufs Bericht war. Es erstaunte ihn keineswegs, dass einige, vielleicht sogar alle Oasen nicht mehr in britischer Hand waren, aber der Gedanke, dass eine Bande blutrünstiger Beduinen Luxor angreifen könnte, war grotesk. Gleichwohl gab Ramses die Hoffnung auf, den Alten überreden zu können, sich von seiner geliebten Waffe zu trennen.
Zwei seiner Söhne mussten Yusuf auf sein Pferd hieven, das fast so fett war wie er, mit einem Bauch wie ein Fass und der tief sitzenden Abneigung, sich schneller zu bewegen als im Schritttempo. Es schien Stunden zu dauern, bis sie den Wüstenstreifen zwischen Gurneh und dem Gebirgszug des Hochplateaus durchquert hatten. Während sie Seite an Seite vorwärts trotteten, betonte Yusuf, dass er alles für sie vorbereitet habe.
»Jeden Tag kam ein Brief! Vom Vater der Flüche, von Selim, von der Sitt Hakim, und in jedem stand, was zu tun sei. Noch nie habe ich innerhalb weniger Tage so viel Post bekommen!«
»Da ist es schon gut, dass du Jumana hattest, die sie dir vorlesen konnte«, bemerkte Nefret ohne die Spur eines Lächelns.
Jumanas Vater schnaubte etwas Unverständliches. Das Grabmal befand sich an vergleichbar unzugänglicher Stelle, inmitten einer engen Felsspalte, die die Klippe durchschnitt. Ursprünglich war es nur von oben erreichbar gewesen, mit Hilfe eines Seils. Emerson hatte die untere Öffnung verbreitert und Stufen einbauen lassen, solange sie in der Gruft arbeiteten; als sie fertig waren, hatte er sie abgerissen, um Dieben (und den Mitarbeitern der Antikenverwaltung) den Zugang zu erschweren. Anstelle der früheren Treppe befand sich dort jetzt eine Strickleiter mit eigentümlich geformten Holzstücken, die in unregelmäßigen Abständen an den Seilen befestigt waren.
»Sie ist sicher«, beteuerte Yusuf, als Ramses das Gebilde skeptisch beäugte. »Ich bin schon viele Male hinauf- und wieder hinuntergeklettert. Und es war Jamil, Bruder der Dämonen, der sie in das Grab hängte, indem er sich an einem Seil vom Gipfel der Klippe herunterließ. Er hat sich in große Gefahr gebracht.«
»Es war nicht schwer«, räumte Jamil ein. »Gefährlich ja, aber nicht schwierig für mich.«
Bescheidenheit war keine Tugend der Ägypter. Jamils Prahlerei war keineswegs ungewöhnlich; und Ramses musste zugeben, dass sie vermutlich sogar berechtigt war. Der Junge war schlank und gut gebaut für seine Größe, darüber hinaus waren es die jungen Männer vom Westufer gewöhnt, über Felsformationen und steile Pfade zu klettern, vor denen die meisten Europäer zurückgeschreckt wären.
Dennoch lehnte er Jamils Angebot ab, als Erster hinaufzusteigen – »um dir und Nur Misur zu helfen«. Obwohl Yusuf von unten die Leiter festhielt, schwankte sie alarmierend, doch sie schien stabil genug. Am Gesims des Grabeingangs rief Ramses hinunter zu Nefret, sie solle ihm folgen. Jamil starrte unablässig zu ihr hinauf, während sie
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