Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
Taschenlampe wegstecken, um die Hände frei zu haben für das Seil. Er konnte Bertie nicht sehen, vernahm aber seinen gepressten, keuchenden Atem. Zuerst gewahrte er Widerstand und einen Schmerzensschrei von dem Mann dort unten, aber Ramses wagte nicht, das Seil nachzulassen, spürte er doch eine Aufwärtsbewegung. Mit beiden Händen fasste er nach und zog das Seil stramm.
»Das war’s«, stöhnte Bertie. »Beide Hände sind frei …«
»Gut«, seufzte Ramses, bemüht, sein Gleichgewicht zu halten. Er wäre fast vornüber gekippt, denn das Seil hatte unvermittelt nachgegeben. Berties Hände kamen in Sicht. Seine Fingerknöchel und ein Handrücken waren aufgeschürft.
Ramses half ihm auf die relativ ebene Plattform und beugte sich dann vor. Das Gebrüll seines Vaters, der positive, detailgenaue Auskünfte wünschte, erreichte einen ohrenbetäubenden Geräuschpegel und harmonierte mit Jumanas schrillem Sopran.
»Alles in Ordnung. Wir kommen runter«, rief Ramses.
»Danke«, sagte Bertie.
»Wofür?«
Bertie hatte die Seilschlinge abgestreift. Er wühlte in seiner Jackentasche nach einem Taschentuch und wischte sich sein schmutzverkrustetes Gesicht. »Dafür, dass du mich da rausgeholt hast. Und dass du dir solche Kommentare verkniffen hast wie ›Ich lass den armen Idioten besser gleich da unten‹.«
»Das bist du nicht. Aber wenn du so weitermachst, lass ich dich sofort wieder runter.«
»Nein, ich hab mich heut schon einmal verflucht lächerlich gemacht, das reicht völlig. Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?«
Er hätte sich die Antwort lieber erspart. Das Ende des Seils haltend, entschied Ramses, dass er es ihm besser unverblümt erzählte. »Jumana. Sie bemerkte, dass du verschwunden warst, und dachte sich, dass du diesen Weg wählen würdest. Vater und ich haben ihr Rufen gehört.«
»Oh.« Bitter setzte er hinzu: »Nett von ihr, zu meiner Rettung zu eilen.«
»Das hätte doch jedem passieren können«, sagte Ramses. »Und jetzt komm.«
»Warte. Ich will nicht, dass du mich für einen Volltrottel hältst. Ich hätte den Aufstieg nie allein riskiert – ich weiß, dass ich kein guter Kletterer bin –, aber ich habe ihn gesehen. Genau hier hat er sich vorgebeugt und zu mir hinuntergesehen. Er hat mich nicht gestoßen«, fügte Bertie schnell hinzu, Ramses’ Gedankengänge ahnend. »Ich möchte nicht, dass sie das denkt.«
»Zum Teufel mit dem, was sie denkt«, sagte Ramses wütend. »Verflucht, Bertie, du kannst doch nicht irgendwelche Felsformationen hochkraxeln, wenn dort oben jemand ist, der dich nicht mag. Ich hätte das nicht riskiert.«
»Doch, das hättest du – wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe. Er hat gelacht, Ramses, und irgendeinen Gegenstand geschwenkt. Ich konnte ihn nicht richtig erkennen, aber er glänzte. Wie pures Gold.«
6. Kapitel
Ich kann mich nicht entsinnen, Cyrus Vandergelt schon jemals so aufgebracht erlebt zu haben. Selbst Emerson saß schweigend da und schaltete sich nicht ein, als unser alter Freund auf und ab stapfte und unzusammenhängende amerikanische Verwünschungen ausstieß.
Nefret und ich trafen kurz nach den anderen zu Hause ein. Wie ich seiner Schimpftirade entnehmen konnte, hatte Cyrus die anderen vier auf dem Heimweg getroffen. Er hatte Bertie und Jumana über Stunden gesucht, nachdem er feststellen musste, dass beide aus Deir el-Medina verschwunden waren, und war in Medinet Habu angelangt, als Bertie, gestützt auf Ramses und Emerson, auftauchte.
Die Erleichterung schlug in Erzürnung um, nichts Ungewöhnliches in solchen Fällen. Als Cyrus erfuhr, wo sie gewesen waren, richtete sich sein Zorn in erster Linie gegen Emerson. Auf Anraten meines Gatten hatten sie Bertie umgehend in unser Haus gebracht und ganz offensichtlich nicht die Zeit oder die Idee gehabt, sich zu erfrischen. Ihre staubigen, verschwitzten Sachen waren der eindeutige Beweis für einen problematisch gearteten Tag, doch eine rasche, indes eingehende Bestandsaufnahme vermittelte mir, dass Bertie der einzige Verletzte war. Er hatte seinen Fuß auf einen Schemel gestellt, und Kadija bestrich diesen mit ihrer berühmten giftgrünen Heilsalbe. Fatima rückte mit Platten voller Speisen an – ihre Standardlösung für sämtliche Katastrophen; Gargery drängte darauf zu erfahren, was passiert war – Jumana versuchte, es ihm zu schildern; und Cyrus tobte. Es ging ausgesprochen laut und hektisch zu.
Nefret trat zu Ramses. Er schüttelte lächelnd den Kopf, als Reaktion auf
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