Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
Stier bei den Hörnern zu packen. Ich bedeutete ihr, Platz zu nehmen. »Ich würde gern mit Ihnen über Ihre Mutter sprechen, Maryam. Sie war eine sehr schlimme Frau und starb eines gewaltsamen Todes – aber weder durch uns noch durch Ihren Vater.«
Sie atmete so scharf ein, als hätte ich sie geschlagen, und sah mich direkt an. »Sie reden nicht lange um die Sache herum, was?«
»Das hat keinen Sinn. Ich weiß nicht, was Sie über sie erfahren haben, aber ich möchte einiges klarstellen und Ihnen vermitteln, dass Sie in keinster Weise verantwortlich sind für ihre Handlungen.«
»Mein Vater war nicht dabei, als sie … als sie starb?«
»Nein. Möchten Sie wissen, was an dem fraglichen Tag wirklich passiert ist?«
Sie nickte, ihre Augen geweitet.
»Ihrer – äh – Verbindung mit Ihrem Vater folgten andere – äh – Verbindungen ähnlicher Natur«, begann ich. »Ich nenne die reinen Fakten, Maryam, ich beschönige oder entschuldige nichts, trotzdem dürfen Sie nicht vergessen, dass sie keine Chance auf ein besseres Leben hatte. Das ist leider bei vielen Frauen so, aber Bertha war nicht der Typ, der klein beigab. Sie baute eine kriminelle Frauen-Organisation auf und war im übertragenen Sinne eine Verfechterin der Gleichberechtigung. Sie mochte mich nicht, weil sie überzeugt war – äh –«
»Dass mein Vater in Sie verliebt sei.«
»Nun ja … stimmt.« Ich hüstelte verlegen. »Das ist nicht mehr der Fall, wenn es denn so war, doch die Eifersucht veranlasste sie zu mehreren Anschlägen auf mich. Der letzte war an besagtem Tag. Sie hatte mich am Nachmittag davor gefangen genommen. Dank Ihrem Vater konnte ich entkommen; doch als ich aus dem Haus meines Freundes Abdullah trat, wohin ich mich geflüchtet hatte, lag sie schon auf der Lauer. Abdullah warf sich vor mich und wurde von den für mich bestimmten Kugeln getötet. Mehrere Männer – Freunde von uns und Abdullah – mussten sie zu Boden zwingen, um ihr das Gewehr zu entreißen. Ich weiß nicht – vermutlich weiß keiner –, wer den tödlichen Schuss abgegeben hat. Mein Augenmerk galt allein Abdullah, sterbend in meinen Armen. Sie haben sie nicht vorsätzlich getötet, Maryam; sie waren außer sich vor Erbitterung und Entsetzen, aber sie hätte weitergeschossen, wenn man sie nicht gehindert hätte.«
»Abdullah«, wiederholte sie. »Der Urgroßvater des kleinen Dolly? Selims Vater und Davids Großvater … Sie alle haben ihn sehr gemocht, nicht wahr?«
Ihre Gefasstheit war beunruhigend, weil unnatürlich. »Ja, das haben wir.«
»Waren sie dabei … Selim und David?«
»Hmmm, ja. Genau wie … Hören Sie, Maryam, wenn Sie Selim oder David verdächtigen, den Todesschuss abgegeben zu haben …«
»Das meinte ich damit nicht.«
»Gute Güte«, kreischte ich entsetzt, denn mir ging ein Licht auf. »Wollen Sie damit sagen, dass einer von ihnen – einer von uns – Sie für das Handeln Ihrer Mutter zur Rechenschaft ziehen will? Unsinn, mein Kind. Abgesehen von der Tatsache, dass wir erst nach dem Vorfall um Ihre wahre Identität erfahren haben. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, aber schleunigst.«
Die Vorhänge bauschten sich heftig. Maryam entfuhr ein spitzer Schrei und mir ein dezenter Fluch, als ein beleibtes Etwas schwerfällig durch das Fenster hereinkletterte. Früher hatte Horus hindurchspringen können. Alter und Gewicht hatten ihre Spuren hinterlassen; jetzt musste er sich an der Wand hochhangeln. Argwöhnisch auf dem Fenstersims verharrend, spähte er durch den Raum, fauchte und verschwand in der Dunkelheit.
»Er hat nach Sennia Ausschau gehalten«, erklärte ich. »Ich hoffe, Sie haben vor Katzen keine Angst.«
»Ich mag sie sehr, aber ich hatte nie eine.«
»Versuchen Sie erst gar nicht, mit Horus Freundschaft zu schließen. Er verschmäht uns alle, bis auf Sennia und Nefret. Er wird Sie heute Nacht nicht mehr stören. Können Sie jetzt schlafen?«
»Ja.« Impulsiv legte sie ihre Hand auf meine. »Danke. Sie haben einige sehr hässliche Gedanken aus meinem Kopf verscheucht.«
Es war eine nette Geste, noch dazu ein kleines Kompliment. »Glauben Sie mir denn?«, fragte ich. »Es ist eine traurige Geschichte, trotzdem dürfen wir andere nicht verurteilen oder uns für ihr Handeln verantwortlich fühlen. Wir haben auch so schon unser Päckchen zu tragen.«
Aus Manuskript H
Emersons Hoffnung, seinen ausgefüllten Arbeitsplan wieder aufzunehmen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wie seine Frau ironisch anmerkte, wäre er
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