Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
als Einziger unbekümmert nach Deir el-Medina getrottet, obwohl viele andere private und ermittlungstechnische Aktivitäten Vorrang hatten. Gleich nach dem Frühstück wollte sie Evelyn und Walter beim Packen für ihren Umzug ins Schloss helfen, um Maryam dann die frei gewordenen Räume zuzuweisen. Sie hatte Lia gebeten, ihre Garderobe nach ein paar passenden Sachen für Maryam durchzusehen. In einem langen Monolog, dem Ramses nur halbherzig lauschte, erklärte sie, warum – irgendwas mit ähnlicher Größe und dem Fehlen von praktischer Kleidung für das Mädchen. In letzter Minute erreichte Nefret ein dringender Ruf aus der Praxis; die Nachricht von der Eröffnung hatte sich verbreitet, und Nefrets Dienste waren zunehmend gefragt.
Emerson staunte nicht schlecht, als er von der rigorosen Kürzung seiner Mitarbeiterzahl erfuhr. »Teufel noch«, blaffte er. »Das Geröll türmt sich meterhoch auf, Peabody. Wie lange brauchst du denn, um ein paar Sachen zusammenzupacken?«
»Davon verstehst du nichts, Emerson, also bitte, gib nicht immer deinen Senf dazu.« Sichtlich angetan von ihrer flapsigen Bemerkung, fuhr sie etwas gnädiger fort: »Vielleicht schaue ich später noch vorbei. Du kannst Ramses und David haben, wenn du magst.«
»Wie großzügig von dir«, meckerte Emerson. »Also dann los, Jungs, der Morgen ist schon halb vorbei.«
Da war es kurz nach sieben.
Trotz Emersons Lamento hatten sie die Grundrisse von einigen Schreinen im Norden des Dorfes und von dem ptolemäischen Tempel näher bestimmen können. Manche waren besser erhalten als andere, indes hatten der Zahn der Zeit und Hobbyarchäologen allen zugesetzt, folglich waren Sachkenntnis und Erfahrung unabdingbar, um den ursprünglichen Lageplan zu erstellen. Bertie, der beste Konstruktionszeichner in der Gruppe, hatte diese Aufgabe übernommen. Er traf kurz nach den anderen ein, entschuldigte sich für die Verspätung und breitete die vorerst letzte Skizze aus, an der er über eine Woche getüftelt hatte.
»Tja«, sagte Emerson nach eingehender Inspizierung. »Nun, das scheint mir insoweit plausibel. Ich möchte die Gottheit bestimmen, der dieses Bauwerk geweiht war.« Er nahm seine Pfeife heraus und klopfte auf die angedeutete Linie, die eine winzige Kapelle darstellte.
Nach Ramses’ Ansicht war das Zeitverschwendung. Die kleinen Privatschreine bestanden aus Lehmschlammziegeln, waren verputzt und bemalt. Inzwischen war der Putz abgeblättert und abgeplatzt. Sie hatten nicht ein Fragment gefunden, das größer als ein Daumennagel gewesen wäre.
Er wies seinen Vater darauf hin. »Eine Votivstele«, belehrte Emerson seinen Sohn. »Mehr brauchen wir nicht. Oder ein Ostrakon mit einem Gebet. Irgendwas werden wir schon noch finden. Außerdem ist der Plan unvollständig. Wo ist die hintere Wand? Selim!«
Selim hatte nicht zugehört. Den Kopf im Nacken spähte er entrückt in den strahlend blauen Himmel. Er hält Ausschau nach einem weiteren Flugzeug, überlegte Ramses belustigt. Emerson musste ihn zweimal rufen, bevor er reagierte.
Emerson hatte ungeahntes Glück. Sie fanden die Votivstele, oder einen Teil davon, die der Arbeiter Nachtmin dem göttlichen König Amenophis I. und seiner Mutter Ahmose-Nefertari gewidmet hatte. Emerson trug sie triumphierend davon, während Selims Mannschaft das Sanktuarium freilegte.
»Wo zum Teufel ist deine Mutter?«, fragte Emerson, behutsam die Sandverkrustungen von der kurzen Inschrift abbürstend. »Der Schuttberg wird immer höher!«
Sie kam kurz vor Mittag, mitsamt dem Proviant, den Emerson vergessen hatte, begleitet von Lia und Sethos. Emerson stürzte sich förmlich auf sie.
»Der Schutt«, begann er.
»Ja, Emerson, ich weiß. Aber zuerst wird gegessen. Wie du siehst, haben wir einen Gast.«
»Ha.« Emerson musterte den maßgeschneiderten Anzug seines Bruders und dessen makellosen Tropenhelm. »So kann er uns aber nicht helfen …«
»Heute nicht«, versetzte Sethos launig. »Ich wollte die Damen nur begleiten und mich kurz umsehen. Nicht viel, was einen zu Begeisterungsstürmen hinreißen könnte«, murmelte er nach einem Blick auf die tristen graubraunen Fundamente und Geröllhaufen.
»Wir haben soeben den Beweis erbracht, dass Amenophis I. und seiner Mutter hier gehuldigt wurde«, ereiferte sich Emerson. »Ein Stelenfragment.«
»Wie aufregend«, meinte Sethos gedehnt. »Wenn es eine Statue gewesen wäre …«
»Hättest du versucht, sie zu klauen«, brauste Emerson auf.
» Deine Funde sind vor mir
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