Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
lassen. Ich habe Pater Benedict gebeten, das Nötige zu veranlassen und uns heute Nachmittag auf dem Friedhof zu treffen. Als Italiener war Martinelli vermutlich römisch-katholisch.«
»Ich bezweifle, dass er an etwas anderes glaubte als an seinen eigenen Vorteil«, murmelte Sethos.
»Vielleicht hat er es am Ende bereut«, sagte ich entschieden. »Wir müssen ihm die Gunst des Zweifels gewähren. Ihr anderen braucht nicht mitzukommen, aber ich muss hingehen.«
»Ich weiß nicht, wie du das schaffst, Tante Amelia.« Lia schüttelte ihren Lockenkopf. »Ich bewundere deine positive Energie, aber ich werde mich lieber ausklinken.«
»Schätze, ich sollte mitkommen«, sagte Cyrus. »Hätte mich persönlich um die Formalitäten kümmern müssen.«
Der einzig weitere Freiwillige war Sethos. In letzter Minute entschied Cyrus – nach ein paar dezenten Hinweisen meinerseits, dass er dem Mann, der ihn brutal ausgeraubt hatte, nicht die letzte Ehre erweisen müsse. Er hatte sich dazu nur bereit erklärt, weil er mich nicht allein hinschicken wollte. »Sie behalten sie im Auge«, sagte er zu Sethos. »Lassen Sie sie nicht allein auf Erkundungstour gehen.«
»Warum sollte ich sonst mitgehen?«, so Sethos’ rhetorische Frage.
Der kleine christliche Friedhof, an der Straße nach Karnak, wirkte etwas gepflegter als bei der letzten von mir besuchten Bestattung. Entsetzt über die vernachlässigten Gräber und die Tiere, die dort hausten, hatte ich ein Komitee gebildet. Meine Freundin Marjorie hatte den Vorsitz übernommen und sich mächtig ins Zeug gelegt: Die Gräber waren vom Unkraut befreit, die Grabsteine wieder aufgerichtet. Gegen die wild lebenden Tiere vermochte sie nicht viel auszurichten. Wurden sie verscheucht, schlichen sie sich zurück, sobald wieder Ruhe eingekehrt war. Man musste auf Exkremente und abgenagte Knochen achten. Es war ein trostloser Ort, trotz – oder gerade wegen – der welkenden Blumen auf den Gräbern der Menschen, die Freunde oder Verwandte in Luxor hatten. Blumen hielten nicht lange bei der Hitze. Mein Schatten spendender Sonnenschirm war eine Wohltat. Er war schwarz – nicht weil ich trauerte, sondern aus praktischen Erwägungen. Der Schirm gehörte zu den stabileren Exemplaren.
Der Geistliche erwartete uns bereits, sein unbedeckter Glatzkopf dem gnadenlosen Sonnenlicht ausgeliefert. Er konnte nicht viel mehr tun, als die offiziellen Gebete zu sprechen. Nachher gab ihm Sethos, der die ganze Zeit geschwiegen und lediglich eine entfernte Bekanntschaft mit dem Toten angedeutet hatte, ein paar Münzen.
»Bitte, lesen Sie in Ihrer grenzenlosen Güte doch einige Messen für seine Seele«, sagte er. Erst als wir uns entfernten, untermalt von dem morbiden Geräusch prasselnden Erdreichs auf den schlichten Sarg, versetzte er: »Wenn sie einer brauchen kann, dann Martinelli.«
Ich erwiderte nichts. Ich dachte an verschiedene andere Gräber auf diesem Friedhof – Mahnmale unserer früheren Begegnungen mit dem Verbrechen. Der bedauernswerte junge Alan Armadale und Lucinda Bellingham. Ich hatte sie nicht retten können, aber ich hatte sie gerächt. (Mit einiger Hilfe von Ramses.) Es gab noch eine weitere Grabstätte, und als Sethos zum Ausgang streben wollte, fasste ich seinen Arm und zog ihn zum hinteren Ende des Friedhofs. Sobald wir näher kamen, erhob sich ein wilder Hund von dem verwahrlosten Grab und wich knurrend zurück. Es war ein trächtiges Weibchen.
»Wie passend«, murmelte Sethos. »Warum hast du mich hergeschleift, Amelia?«
»Du hast ihr Grab nie besucht?«
Der von mir umklammerte Arm wurde starr. »Ein Mal. Ich wollte mich persönlich überzeugen, dass sie auch wirklich tot ist. Ich vermute, du hast den Grabstein setzen lassen. Nur mit ihrem Namen? Ist dir kein passender Spruch eingefallen?«
»Da ist einer.« Ich kniete mich hin und bog die staubigen Sträucher auseinander. Unter ihrem Namen waren die Worte eingemeißelt: Möge sie in Frieden ruhen.
»Oh Gott.« Er zog mich unsanft hoch und legte seine Arme um mich. »Du bist unglaublich, Amelia. Sie versuchte dich umzubringen und hat einen deiner liebsten Freunde getötet. Wie kannst du ihr das verzeihen?«
Es war eine brüderliche Umarmung, nicht die eines Geliebten, dennoch befreite ich mich so sanft und schnell ich konnte. Bertha hätte da keinen Unterschied gemacht, und ich wollte nichts riskieren, wenn ich auch die altägyptische Vorstellung nicht teile, dass die Seele nahe den sterblichen Überresten verweilt.
»Es
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